von Uli Brockmeyer, Luxemburg
Die Volksbefragungen zur EU-Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden haben auch die allgemeine Stimmung im kleinen und beschaulichen Luxemburg kräftig aufgemischt. Noch vor wenigen Monaten galt es hier als abgemacht, daß die rund 230000 wahlberechtigten Luxemburger beim Referendum am 10. Juli den Verfassungstext ohne Probleme durchwinken würden. Als Premierminister Jean-Claude Juncker Anfang des Jahres die Bemerkung fallen ließ, daß er im Falle eines »Mißerfolgs« zurücktreten würde, hat das niemanden vom Stuhl gerissen – es wurde als eine der nonchalanten Äußerungen des Regierungschefs hingenommen, für die er bekannt ist und für die ihn viele auch durchaus mögen. Zu dieser Zeit interessierte sich auch kaum jemand für Umfrageergebnisse. Und das zu Recht. Denn noch im Januar wies das Eurobarometer eine satte Zustimmung von 57 Prozent aus, lediglich zwölf Prozent der Befragten äußerten die damals absonderliche Meinung, daß das Verfassungswerk abgelehnt gehöre. Allerdings hatte sich zu diesem Zeitpunkt auch noch fast niemand mit dem Wortlaut des Vertrages über eine Verfassung für Europa beschäftigt.
Und dann begann die Regierung mit einer beinahe vorbildlichen Aufklärungskampagne, schließlich hatte Juncker im Januar die Ratspräsidentschaft der EU übernommen und wollte seinen Kollegen mal so richtig vorführen, wie man das demokratische Instrumentarium bedient. Die in Belgien gedruckten Broschüren mit dem mehr als 480 Seiten umfassenden Vertragswerk wurden in deutscher und französischer Sprache ausgelegt, wer wollte, konnte sich sein Exemplar mit nach Hause nehmen. Und zu lesen versuchen …
Im April folgte dann die erste Überraschung. Die Abgeordnetenkammer stellte ihren repräsentativen Saal für drei öffentliche Anhörungen zur Verfügung, bei denen das Volk, also nicht dessen gewählte Vertreter, seine Meinung über den Vertrag vom Rednerpult des Hohen Hauses verkünden durfte. Eingelassen wurde, wer rechtzeitig erschien, und reden durfte, wer sich zuerst in die Rednerliste eingetragen hatte. Das ganze wurde im staatlichen Parlamentskanal live übertragen. Und da stellte sich plötzlich heraus, daß wesentlich mehr Bürger größere und kleinere Bedenken gegen den Verfassungstext vorbrachten, als man nach den Umfragen vermuten durfte.
Selbstverständlich spielten die Debatten im benachbarten Frankreich dabei eine große Rolle. Faktisch jeder Luxemburger beherrscht die Sprache des Nachbarn, und die nächtlichen Diskussionen in den französischen TV-Sendern erfreuten sich auch hier wachsender Beliebtheit. Und so wurde die Regierungskoalition aus Christdemokraten und Sozialdemokraten mächtig überrascht, als unmittelbar vor dem Referendum in Frankreich die Umfragen neue Realitäten ans Tageslicht brachten. Die Gruppe der Zustimmungswilligen sank deutlich unter fünfzig Prozent, und 32 Prozent der Befragten wollten den Vertrag ablehnen.
Nach den für die EU-Politiker niederschmetternden Ergebnissen der Plebiszite vom 29. Mai und 2. Juni, die eigentlich für einen erfahrenen Staatsmann wie Juncker nicht überraschend gewesen sein dürften, begann hierzulande eine hektische Betriebsamkeit, zumindest für Luxemburger Verhältnisse. Die Regierungsparteien und auch die im Parlament vertretenen Liberalen scharten sich wie ein Mann um den Regierungschef und beteuern seitdem täglich, wie wichtig die Zustimmung zum Verfassungsvertrag vor allem für Luxemburg sei. Immerhin sei das Land eines der Gründungsmitglieder der EU, habe aus verschiedenen Gründen besonders von der EU profitiert und werde heutzutage als das reichste der EU-Länder angesehen.
Der sichtlich nervöser werdende Premier tappte nun auch noch in einige Fallen, die er selbst aufgestellt hatte. Im Dezember 1999 hatte Juncker in einem Gespräch mit dem Spiegel erläutert, wie EU-Politik funktioniert. »Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.« Als ihm der Vorsitzende der Kommunistischen Partei genau dieses Zitat vorhielt, zog es der sonst als schlagfertig bekannte »Mister Europa« vor, nicht darauf zu reagieren.
Dann streute eine Zeitung das Gerücht, die Rücktrittsdrohung des Premiers habe nur für den Fall gegolten, daß Luxemburg als einziges Land mit Nein stimmen würde. Mitnichten, verkündete Juncker am nächsten Tag, werde er ein mehrheitliches »Nee« seiner Wähler unbedingt als Aufforderung betrachten, den Dienst zu quittieren. Woraufhin die Kommunisten nachlegten und meinten, in diesem Fall sollte die ganze Regierung demissionieren. Und die Liberalen setzten noch eins drauf und brachten die Notwendigkeit von Neuwahlen ins Gespräch …
Als Unachtsamkeit könnte man, so man sich freundlich artikulierte, ein vor der Öffentlichkeit geheimgehaltenes Treffen des Großherzogs (der beim Referendum nicht einmal Stimmrecht hat) mit dem Regierungschef und den Führern der beiden parteinahen Gewerkschaften bezeichnen, bei dem die Gewerkschaftsbosse darauf eingeschworen wurden, noch stärker als bisher für ein Ja am 10. Juli zu agitieren. Als dieses Geheimtreffen vor wenigen Tagen durch den KP-Vorsitzenden Ali Ruckert auf einer Pressekonferenz enthüllt wurde, schlugen die Wellen hoch. Der großherzogliche Hof ließ ein halbgares Dementi verbreiten, einer der beiden »Arbeitervertreter« wies die Behauptung empört zurück, der andere wollte weder bestätigen noch dementieren. Juncker selbst bestätigte das Treffen indirekt und behauptete kühn, es habe sich um eine ganz normale Arbeitskonferenz gehandelt. Beobachter sind sich weitgehend einig, daß damit ein recht großer Schaden angerichtet wurde. Ebenso wenig hilfreich ist die Gründung einer Initiative für das Ja in diesen Tagen, der 66 Manager und Besserverdienende angehören.
Die Angst, für all das am 10. Juli die Quittung zu bekommen, ist zumindest berechtigt. Vor wenigen Tagen wurde eine aktuelle Umfrage bekannt, nach der die Front der Nein-Sager auf 38 Prozent angestiegen ist. Zustimmen wollen noch 46 Prozent. Den größten Anteil unter den Vertragsgegnern bilden Arbeiter, kleine Angestellte und Jugendliche. Falls die EU-Lenker nicht anders entscheiden und den Ratifizierungsprozeß aussetzen sollten, wird es auch in Luxemburg sehr knapp für »Mister Europa«.
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