Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 6. Juni 2005, Heft 12

Veränd’re die Welt, sie braucht es!

von Kurt Merkel

So steht es, man weiß das, bei Brecht. Der Untertitel des neuen Buches von Wolfgang Engler Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft erinnert daran. Und der Haupttitel Bürger, ohne Arbeit stellt natürlich einen Bezug her zu der Situation, daß heute viele Arbeiter aufgehört haben, Arbeiter zu sein, weil sie keine Arbeit haben, also nun Bürger ohne Arbeit sind. Bürger bin ich, Arbeit habe ich auch nicht, für eine Neugestaltung der Gesellschaft bin ich allemal, also habe ich mir das Buch hergenommen, obwohl ich kein Soziologe und auch kein Kultursoziologe bin wie der Verfasser.
In einem Vorkapitel stellt Engler das Foto einer Köchin vor, die offenbar Arbeit hat, darum geht es also zunächst nicht, die aber mit ihrer Haltung demonstriert, daß sie als Mensch mehr ist, als der Beruf von ihr fordert. Für sie sind also Arbeit und Leben nicht eins, sie geht nicht in ihrem Beruf auf – wie das etwa die von August Sander fotografierten Handwerker noch taten.
Ausgehend davon entwickelt Engler nun den Gedanken, daß, wenn die Identität von Arbeit und Leben nicht gegeben sei, wenn sich Bürger und Mensch von Arbeit geknechtet sehen, sie eben als Mensch und Bürger dennoch ein Menschenrecht auf Leben auch ohne Arbeit haben. Ich gebe zu, hier über längere Zeit gegen den Text gelesen zu haben, so sehr bewegt von den Problemen, die sich aus der Nichterfüllung gerade eines anderen sozialen Rechts, nämlich des auf Arbeit, ergeben. Aber aus der Tatsache, daß diese Gesellschaft nicht in der Lage ist, jedem die Chance auf Erarbeitung seines Lebensunterhalts zu geben, ergibt sich natürlich die Berechtigung oder auch Notwendigkeit solcher Fragestellung.
Engler diskutiert daher im folgenden die Möglichkeiten der beiden unterschiedlichen Modelle eines Bürgergeldes, also einer staatlich organisierten Grundversorgung eines jeden Bürgers, die unabhängig vom Vorhandensein von Arbeit oder auch vom Willen zur Arbeit oder überhaupt von irgendwelchen Nachweisen der Bedürftigkeit gewährt werden sollte. Im Falle der negativen Einkommensteuer würde jeder einkommensabhängig staatliche Zahlungen erhalten, deren Höhe mit steigendem Arbeitseinkommen abnimmt, bis eine Schwelle erreicht ist, von der an positive Steuern anfallen, aus denen die Kompensationen für die geringer Verdienenden bestritten werden. Im Falle der Sozialdividende dagegen erhielte jeder einen Fixbetrag, von dem mehr oder weniger Steuern je nach Höhe des Einkommens zurückzuzahlen sind.
Den von Engler vorgestellten Vor- und Nachteilen des einen oder anderen Systems will ich nicht nachgehen, zumal hier der utopische Charakter des Bürgergeldmodells zumindest erwähnt wird wie auch die Notwendigkeit, die Menschen mit Bildung auf eine solche Lebensform vorzubereiten: Ohne neuen Menschen geht es auch bei Engler nicht.
Aber dieses Modell und die Feststellung der »definitiven Auflösung des altbewährten Junktims von ökonomischer Existenzgewinnung und gesellschaftlicher Einbindung« bilden die Grundlage für das Nachdenken über Notwendigkeit und Möglichkeit »radikaler Neugestaltung der Gesellschaft«.
Engler faßt zusammen: »Weniger Lohn – abflauender Konsum – stockender Absatz – gedrosselte Produktion – Entlassungen bzw. Kurzarbeit – weitere Einschränkung der zahlungsfähigen Nachfrage usw. usf. Diese verhängnisvolle Abwärtsspirale … kreisen zu lassen … tragen die ›Wechsler‹ des Casinokapitalismus keinerlei Bedenken. Man wird sie aus dem großen Spielsaal jagen müssen.«
Im Versuch, das revolutionäre Subjekt zu bestimmen, das die als notwendig erkannten Veränderungen herbeiführen soll, hat Engler ein großes Problem in das kleine Wörtchen »man« gepackt. Regierung, Staat, supranationale Organisationen sind es nicht, die »die politische Vereidigung der Wirtschaft auf die Bedürfnisse des Lebens« durch das Verjagen der Wechsler herbeiführen werden. Wo also liegt die Kraft zur Veränderung? Englers Antwort: »bei den vielen einzelnen, bei ihrem Willen, sich miteinander zu verbünden.« »Der Umsturz beginnt im Kopf, mit der Wiederentdeckung der eigenen Urteilskraft als Keimzelle des Politischen.« Ein großer Aufwand, um bei Kant zu landen. Der steht nicht im Literaturverzeichnis.

Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, Aufbau-Verlag Berlin 2005, 416 Seiten, 19,90 Euro