von Jochen Reinert, Oslo
Im Herzen Oslos ist in diesen Tagen die berühmte Karl Johan Gate zwischen Nationaltheater und Storting ebenso aufgewühlt wie der 7. Juni Plassen vor den Victoria-Terrassen, wo einst die Gestapo Widerstandskämpfer folterte und Naziführer Vidkun Quisling für die geräuschlose Erfassung und Deportation der norwegischen Juden auf die Schulter klopfte. Die Straßenbauten haben just ihre Ursache in dem Datum, nach dem jener Platz vor den Victoria-Terrassen benannt wurde: Am 7. Juni 1905 erklärte der Storting die Auflösung der 1814 nach den napoleonischen Kriegen dem Fjordland aufgedrückten Union mit Schweden. Einhundert Jahre unabhängiges Norwegen – da muß halt alles besonders schmuck sein.
Unten am Hafen, in den Mauern des ehemaligen Kopfbahnhofes Vestbanen, wird gerade eines der Highlights der Feiern hergerichtet: das Nobel Peace Center. Noch wird an allen Ecken und Enden gehämmert, aber Projektleiterin Grete Jarmund kann in den jeweiligen Räumen des Noch-Labyrinths auf ihrem Laptop die Ausstattung als Bild herbeizaubern, die das Friedenszentrum am Ende haben soll. Dabei ist nicht an das Vorzeigen von Kugelschreibern oder Strickjacken irgendwelcher Nobelpreisträger gedacht. »Wir wollten vielmehr ein lebendiges Zentrum für die Vermittlung der Ideale des Friedensnobelpreises und für den Dialog über kleine und große Konflikte schaffen«, interpretiert Jarmund die Projektidee.
Freilich geht es nicht ohne die Laureaten; dennoch soll es nicht nur um die rund 110 Preisträger gehen. Das »Auge der Welt«, ein ovaler Raum mit schwarzen Sitzbänken auf der einen und einer riesigen Videoleinwand auf der anderen Seite, lädt vor allem Schulklassen zu Videokonferenzen mit Gleichaltrigen in anderen Ländern ein – etwa im Westjordanland. Dabei hoffen die Gestalter des Peace Centers offenbar auf den Rückenwind der im Vorjahr vom Storting angeschobenen Debatte über die Ausarbeitung neuer Lehrpläne, darunter für die Einführung eines Schulfaches, in dem Konfliktlösungen auf lokalen wie internationalen Schauplätzen erarbeitet werden sollen.
Selbst Aftenposten, das konservative Hauptblatt des Landes, konnte sich in einem großaufgemachten Report unter der Schlagzeile »Frieden kann ein Schulfach werden« dafür erwärmen. Aus einem Pilotprojekt in einer Osloer Schule wird berichtet, daß sich die Eleven durchaus für das Durchspielen von Konfliktlösungen begeistern können. So etwa über jenen Konflikt in Sri Lanka, bei dem nicht wenige Osloer Schulklassen sogar junge Tamilen oder Singhalesen aus Einwandererfamilien aufbieten können. Im Moment sieht es jedenfalls so aus, als ob Norwegens Schüler in den Genuß solcher Friedenspädagogik kommen werden.
Kein Wunder, daß der norwegische Sri-Lanka-Vermittler Erik Solheim einem solchen Schulfach eine Menge abgewinnen kann. Generell sei es wichtig, daß die Schüler verstehen: Bei den Konflikten in den verschiedenen Weltteilen gibt es nicht nur schwarz und weiß. In der Mehrzahl der Fälle, meint der im Außenministerium residierende Diplomat, hätten beide Seiten »gerechtfertigte Gesichtspunkte« – was auch für die Singhalesen und Tamilen auf der Zimtinsel gelte. »In allen Konflikten«, rät er, »muß man versuchen, Vertrauen zu schaffen. Wobei Geduld und der Wille zuzuhören entscheidend sind.«
In Sachen friedlicher Konfliktlösung haben die Norweger schon länger Übung. Schließlich entstammt der moderne norwegische Staat einem solchen Verfahren – wen wundert’s, daß das Nobel Peace Center bei seiner Eröffnung am 11. Juni dazu eine Sonderausstellung anbietet. Im Sommer 1905, als die Fjordländer die ihnen im Kieler Frieden 1814 aufgezwungene Union mit Schweden beenden und damit ihre volle Unabhängigkeit erstreiten wollten, standen sich beide Seiten kriegsbereit gegenüber. Erst nach langwierigen Verhandlungen einigte man sich am 23. September im Karlstad-Abkommen auf eine Friedenslösung, für die nicht zuletzt die jungen Arbeiterbewegungen beider Länder stritten. Nach der offiziellen Trennung Ende Oktober wurde Norwegen sofort von zahlreichen Staaten diplomatisch anerkannt. Das kaiserliche Deutschland hinkte einen Tag nach – wohl auch, weil Nordlandfahrer Wilhelm Zwo über die norwegische Königskrone für den Dänenprinzen Carl, einem Schwiegersohn des britischen Monarchen, ziemlich sauer war. Sah er doch die von ihm alljährlich mit seiner Yacht durchpflügten Fjorde schon fest in Londoner Hand.
Die damals errungene volle Selbstständigkeit wird jedoch nicht so sehr im Vordergrund der üppigen 100-Jahr-Feiern stehen, läßt der Historiker Anders Jølstad im Hauptquartier des Vorbereitungsstabes in der Osloer Riddervoldsgate wissen. Norwegen sei 1905 – mit eigener Verfassung, mit Parlament, Regierung und Armee – ohnehin schon weitgehend autonom gewesen. Deshalb wolle man das Jubiläum mehr gegenwarts- und zukunftsbezogen unter das Motto 100 Jahre Bürger der Welt stellen, schließlich seien die Norweger damals mit ihren ersehnten diplomatischen Vertretungen in die Welt getreten und hätten im Laufe der Jahrzehnte etliches für Friedenslösungen getan.
Doch eine von Jølstads Stab bestellte Umfrage in acht europäischen Ländern über das Bild Norwegens brachte eine herbe Enttäuschung: Über die humanitären Einsätze und Friedensvermittlungen von Nansen bis Solheim wußte so gut wie niemand etwas. »Eine große Diskrepanz zwischen unserem Selbstbild und der Außenwahrnehmung«, kommentiert Jølstad. Ob die Befragten etwa auch an Norwegens Einsätze im »Antiterror-Krieg« dachten (in Afghanistan nimmt Oslos Armee erstmals seit 1945 wieder an Kampfhandlungen teil, auch im Irak gehört man zu den »Willigen«), bleibt im dunkeln.
Immerhin steckten die Strategen in der Riddervoldsgate den Kopf nicht in den Sand und provozierten mit Hilfe von Hans Engell, Chefredakteur des dänischen Massenblattes Ekstra Bladet, eine heftige Debatte. Engell nannte die Norweger »reich, fett und selbstzufrieden« und hielt ihren Eliten vor, sie würden als eine Art Menschenrechts-Jetset »unter dem Vorwand, Frieden zu schaffen«, weltweit »Berühmtheit einkaufen«. Die Osloer Medien stiegen voll ein – Jølstad war’s zufrieden.
Ob allerdings am Ende der 100-Jahr-Feiern im November das derzeitige Mitte-Rechts-Kabinett unter dem Christdemokraten Bondevik noch im Amt sein wird, ist fraglich. Denn die nach Rückkehr auf die Regierungssessel lechzenden Sozialdemokraten haben sich unlängst von ihrer alten arroganten Attitüde verabschiedet, nur allein regieren zu wollen. Erstmals in der Geschichte gehen sie nun mit einer Koalitionsaussage – für die Sozialistische Linkspartei und das bäuerliche Zentrum – in die Oktober-Wahlschlacht.
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