Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 20. Juni 2005, Heft 13

Ein progressiver Evangelikaler

von Axel Fair-Schulz

Daß es im Christentum progressive Kräfte gibt, ist allgemein bekannt. Weniger bekannt hingegen ist, daß sie sich auch an für Alteuropäer schwerlich vermuteter Stelle finden lassen, sogar unter nordamerikanischen Evangelikalen. Dort nämlich gibt es seit einiger Zeit eine von ihren Gegnern als Evangelikale Linke charakterisierte Theologenschule. Stanley Grenz, einer ihrer innovativsten und einflußreichsten Vertreter, verstarb nun im März dieses Jahres überraschend mit nur 55 Jahren. Evangelikale Gruppierungen machen es Außenstehenden nicht gerade leicht, eine differenzierte Sicht auf dieses in seiner gesellschaftspolitischen Dynamik und Einfluß rapide wachsende Phänomen zu entwickeln. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom spekulierte schon vor Jahren, daß die politische Vereinnahmung wertkonservativer Christen durch neoliberale market fundamentalists durchaus eine Gegenbewegung auslösen könnte, in der die soziale Frage als zentrales Thema eines biblisch orientierten Glaubens wiederentdeckt wird.
Stanley Grenz war Professor für Systematische Theologie und Ethik am Carey College in Vancouver, Kanada. Geboren in Michigan, studierte Grenz zuerst Teilchenphysik, um sich dann religiösen Fragestellungen am Denver Seminary in Colorado zuzuwenden. In den späten siebziger Jahren promovierte der gelehrte Baptist unter Wolfhart Pannenberg in München. Grenz und andere Vertreter der Evangelikalen Linken, genannt seien hier nur Roger Olsen, Clark Pinnock und Bernard Ramm, suchen nach neuen Wegen jenseits eines evangelikal-traditionalistischen Verständnisses vom Christentum. Während die Traditionalisten göttliche Offenbarung als in der Bibel kodierte zeitlose Propositionen ansehen, macht sich Grenz für eine von Karl Barth beeinflußte historisch-kritische Methodik stark, die aber auch nicht in postmoderne Beliebigkeit oder aber Atheismus mit religiöser Dekoration abgleitet. Für Grenz kann das göttliche Wort am besten als durch konkrete Menschen vermittelte kulturell und historisch bedingte Begegnung zwischen Gott und der menschlichen Person gesehen werden. So ist für Grenz neben der Bibel und den theologisch-exegetischen Traditionen auch die kritische Reflexion der Gegenwartskultur eine Quelle theologischen Herantastens an das unaussprechliche Geheimnis aller Existenz.
Diese theologisch-methodischen Überlegungen mögen für einen in einer anderen Denkkultur sozialisierten Beobachter esoterisch wirken, haben aber eine gerade für Linke hochrelevante praktische Dimension. Denn die theologische Auseinandersetzung mit historisch gewachsenen Verhältnissen, besonders Ausbeutungsverhältnissen, zeigt diese eben nicht als »natürlich« und gottgewollt, sondern als menschengemacht – und damit auch veränderbar. So setzte sich Grenz beispielsweise 1987 mit Wolfart Pannenbergs Marxismus-Kritik auseinander. Pannenberg, in seiner Jugend selbst Marxist, ging mit der sich auf marxistische Kategorien berufenden Befreiungstheologie scharf ins Gericht. Pannenberg, enttäuscht vom Verhalten der sowjetischen Armee im ehemals deutschen Osten sowie vom Dogmatismus ultralinker Studentengruppen an der Freien Universität in Westberlin, unterstreicht in seinen Ausführungen den Zusammenhang zwischen Marxismus, Leninismus und Stalinismus. Für ihn ist die stalinistische Deformation des Marxismus bereits in dessen Menschenbild angelegt. Sich dabei auf den polnischen Philosophen Adam Schaff und besonders den Schweizer Theologen Fritz Lieb beziehend, argumentiert Pannenberg, daß die marxistische Sicht des Menschen als eines ausschließlich sozial-ökonomisch ableitbaren Wesens die Autonomie und Würde des Menschseins unterwandert und damit bereits in seiner philosophischen Anthropologie totalitären Bewegungen die Tore öffnet.
Grenz bejahte Pannenbergs Skeptizismus bezüglich der philosophischen Anthropologie des Marxismus. Im Gegensatz zu seinem Doktorvater war er zugleich jedoch wesentlich kapitalismuskritischer. Für Pannenberg sind Privateigentum an Produktionsmitteln und marktwirtschaftliche Geld-Zirkulation grundsätzlich im Einklang mit der Sozialethik des Neuen Testaments. Schließlich habe Jesus zwar das Anbeten von Geld attackiert, nicht aber seine Funktion als Medium des Tausches.
Grenz kritisierte wie Pannenberg den komplexen Zusammenhang zwischen Ware-Geld-Beziehung, Kapitalakkumulation und Ausbeutung in seiner polemischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus übersimplifiziert. Zwar seien die sozial-ethischen Maxime von Jesus nicht wirklich in marxistischen Kategorien zu fassen, doch sei auch nicht von der Hand zu weisen, daß Jesus den herrschenden Schichten seiner Zeit tiefe Mitschuld am Elend der Armen gab.
Reichtum sei nur dann gerechtfertigt, wenn er zum Wohle auch der Schwachen eingesetzt wird. Dies konnte Jesus bei den Reichen seiner Zeit nicht sehen und Grenz fiel es zunehmend schwer, dies bei den tragenden Schichten heutiger Marktwirtschaft diagnostizieren zu können. So war für Grenz die Akkumulation von Reichtum in der Praxis zumeist mit einer von Jesus keineswegs legitimierten Ausbeutung der Armen verbunden.
Der Kapitalismus habe, so Grenz, seinen real-sozialistischen Widersacher, überlebt, weil er wichtige sozialstaatliche Elemente in sich zu integrieren verstanden habe, sei es in der bundesdeutschen Sozialen Marktwirtschaft oder durch die Reformen von Franklin D. Roosevelt.
Schließlich kritisierte Grenz Pannenbergs weitgehendes Ignorieren kapitalistisch-westlicher Ausbeutung der Dritten Welt. Für Grenz waren die Spuren dieses ungleichen Beziehungsgeflechts real und die Probleme der Dritten Welt keineswegs nur hausgemacht. Während für Pannenberg soziale Gerechtigkeit ein zwar erstrebenswertes, aber irdisch immer unerreichbares Fernziel ist, betonte Grenz, die praktische Unerreichbarkeit dürfe die »biblisch geforderte« größtmögliche Anstrengung nicht relativieren. »For this reason, Christians dare not lose sight of this vision, nor become content with partial victories here and there.«