von Erhard Hexelschneider
Dem Literaturwissenschaftler Ralf Schröder (1927-2001) bin ich persönlich kaum begegnet. Als ich mit dem Slawistikstudium in Greifswald begann, lehrte er schon in Leipzig, und als ich eine Assistenz am Slawischen Institut in Leipzig anfing, lief gerade der Prozeß gegen ihn und seine Freunde in Halle. Dann war er als »Staatsfeind« sieben Jahre (bis 1964) Häftling in Leipzig, Halle und Bautzen. Später, ihm war jede Lehre an der Universität verboten, begegnete ich ihm nur ein paar Mal im Verlag Volk und Welt. Er war dort leitend im Lektorat Sowjetliteratur tätig.
Natürlich hatte ich seine großen Nachworte zu den Werken Trifonows, Tendrjakows, Okudshawas, Bulgakows und vieler anderer Prosaiker gelesen; auch kannte ich seine Gorki-Studien und die Verknüpfungen mit dem »faustischen« Moment im Schaffen des Dichters und seine tiefe Aufhebung der Ideen Dostojewskis. Von seinem Häftlingsschicksal hingegen erfuhr man wenig, auch nicht von seinen damaligen wirklichen Ansichten.
Ein Mangel, wie sich heute zeigt, denn Schröder hinterließ ein vielfältiges Werk, das erst noch aufgearbeitet werden will. Ihm blieb es versagt, eine eigene wissenschaftliche Schule zu bilden. Dabei sprechen seine wissenschaftlichen Leistungen für sich. Das erahnt man aus einer jetzt abgeschlossenen dreibändigen Dokumentation über sein Leben und seine literarischen Ansichten, die seit 2003 von seinem unlängst verstorbenen Bruder, dem Romanisten Winfried Schröder, und dem Leipziger Slawisten Willi Beitz vorbildlich betreut worden ist. Band 1 stellt ein wissenschaftliches Konferenzprotokoll samt vorläufiger Bibliographie dar; Band 2 bietet in geballter Form eine Kompilation seiner wichtigsten Ideen auf dem kulturpolitischen Hintergrund seiner Zeit. Schließlich wird in Band 3 das persönliche Schicksal des Wissenschaftlers in der DDR, sein Leben im Zuchthaus und sein von geistigen Zensoren bewachter Wiedereinstieg in die Welt der russischen Literatur deutlich; seine unvollendete Prosa hätte sicher den Titel tragen können Mein Leben mit der russischen Literatur. Erschütternd die Briefe der repressierten (und später rehabilitierten) Brüder an die Familie; erstaunlich die Festigkeit von Ralf in seinen schriftlichen Äußerungen, was seine Überzeugungen von einem demokratischen Sozialismus anging. Ohne – zumindest in den vorliegenden Texten erkennbare – Verbitterung, aber voller Zuversicht versucht hier ein Mann unter den mißlichsten Bedingungen seinem Ideal zu leben: der Erforschung der russischen Literatur.
Den Herausgebern gelingt es, durch eine außerordentlich kluge Auswahl von Texten der SED-Führung, von zeitgenössischen marxistischen Kritikern und von Kulturhistorikern ein faszinierendes Bild auch der Zeit nach der Haftentlassung zu zeichnen. Dabei wird Schröders herausragender Beitrag zur Vermittlung, Edition und Deutung russischer Prosa evident, natürlich an der Seite von Leonhard Kossuth und anderen. Seine Essaysammlung Roman der Seele, Roman der Geschichte (1986) gehört zum wichtigsten, was in der DDR über die sowjetische Prosa geschrieben worden ist. Gleichzeitig aber – und das macht den Reiz des Gesamtwerkes aus – gewinnt man wie in einem Kaleidoskop die widersprüchlichsten Eindrücke über die Kulturpolitik der SED, vor allem über ihre Literaturpolitik.
Willi Beitz (Hrsg.): Ralf Schröder (1927-2001). Das schwierige Leben eines bedeutenden Slawisten, Band 1, Leipzig 2003, 115 Seiten, 11 Euro
Winfried Schröder: Vom Reifen der Alternativen in der Tiefe – Ralf Schröders Lesarten der russischen und sowjetischen Literatur, Leipzig 2003, 223 Seiten, 15,50 Euro
Willi Beitz, Winfried Schröder (Hrsg.): Ralf Schröder – zu Leben und Werk, Leipzig 2005, 322 Seiten, 23 Euro
Zu beziehen über Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., Harkortstr. 10, 04107 Leipzig.
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