Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 11. April 2005, Heft 8

Die Kündigung

von Kurt Merkel

Allenthalben sucht man in Deutschland nach einem Konsens. Konsens auch mit dem Abgelehnten, mit der Regierung, mit den Amerikanern. Eingebunden in ein Leben voller Konflikte, läßt man sich nicht so leicht die Überzeugung nehmen, am Ende fänden sich doch immer Möglichkeiten, mit der Situation, wie sie sich nun mal ergeben hat, zu leben.
Dieser herbeigewünschte Konsens aber ist allumfassend. Das bestätigte kürzlich der DGB-Vorsitzende, also der Chef der einzigen, das ganze Land umfassenden gesamtgesellschaftliche Interessen repräsentierenden Nichtregierungsorganisation. Der Sozialstaat, sagte er, sei eine Einrichtung der Vollbeschäftigungsgesellschaft gewesen. Mit deren Ende könnten die Sozialsysteme nicht mehr leisten, als das Absinken Einzelner in die völlige Verarmung zu verhindern. Die Reformen der Regierung seien also unabdingbar. Damit anerkannte er zugleich die Berechtigung der hinter den Reformen stehenden eigentlichen Aktionen, vor allem den Rückzug der vaterlandslosen Wirtschaft aus ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung mit der Begründung, dem Zwang zur grenzenlosen Profitmaximierung ausgeliefert zu sein. Konsens also statt Kampf ist die Losung.
In solcher Situation zählt jede Stimme, die sich aus dieser Sucht nach Übereinstimmung löst und den gesellschaftlichen Konsens aufkündigt. Eine solche Stimme ist die Christoph Heins. In seinem jüngsten Roman erzählt er die Geschichte des Vaters des auf dem Bahnhof von Bad Kleinen erschossenen RAF-Aktivisten und dessen Kampf um die Wahrheit, der zu einem Kampf gegen den Staat wird. Der pensionierte Gymnasialdirektor, der keinen Kontakt mehr zu seinem im Untergrund lebenden Sohn hatte, nichts von dessen Aktionen weiß und nie einen Zugang zu dessen Gedankenwelt fand, fühlt sich in voller Übereinstimmung mit der Gesellschaft, in der er lebt. Der Eid, den er als Beamter ablegte, ist Zeichen dieser Übereinstimmung, ihm fühlt er sich verpflichtet. So erschüttert ihn die Nachricht vom Tod des Sohnes als ein Ereignis, das sein Selbstverständnis als Vater und Lehrer betrifft und ihn veranlaßt, sich immer wieder der Frage nach seinem Unvermögen und nach seiner Schuld am tragischen Tod des Sohnes zu stellen.
Doch Heins Geschichte beginnt erst hier. Die rasch aufeinanderfolgenden, einander ausschließenden offiziellen Darstellungen der Vorgänge auf dem Bahnhof, die den Sohn völlig unglaubwürdig zu einem Polizistenmörder und zugleich Selbstmörder machen, bringen ihn auf den Weg der Wahrheitssuche. Er muß sich nun wehren gegen Verunglimpfungen auf der einen und ungewollte Vereinnahmung auf der anderen Seite, gegen den Opportunismus der Tochter und die Abstempelung als Querulant durch die Behörden. Er muß erleben, wie in der staatsanwaltlichen Untersuchung Vorgänge und Zusammenhänge verschwiegen, Tatsachen falsch oder einseitig bewertet, Zeugen nicht gehört werden und Beweismittel verschwinden. Er muß, ein neuer Kohlhaas, den Bundeskanzler wegen Verunglimpfung eines Toten verklagen, Beschwerde gegen die Einstellung der Untersuchung führen und schließlich um die Erstattung der Begräbniskosten prozessieren, letzteres nur, um die Wiederaufnahme des Verfahrens vor einem anderen Gericht zu erzwingen.
Und nur, weil er auf einen furchtlosen, weil vor der Pensionierung stehenden Richter Azdak stößt, gelingt es da endlich, in der Begründung der Ablehnung seiner Klage die Feststellung unterzubringen, daß in Bezug auf die Umstände, die zum Tode des Sohnes und eines Polizisten geführt haben, der Zustand der Beweislosigkeit bestehe. Damit und da der Staat nicht um die Aufhebung dieser Feststellung klagt, ist der tote Sohn vor dem Gesetz unschuldig.
Der Vater findet am Ende neben der gesuchten Wahrheit über den Tod des Sohns auch eine zweite, die über den Charakter des Staates, dem er gedient hat: »Ich habe mein Leben lang meinen Schülern Dinge beigebracht, die völlig unsinnig sind … Ich habe sie auf ein Leben in einer Gesellschaft vorbereitet, die lediglich in meinem Kopf existierte.« Und er trennt sich von diesem verlogenen Staat, er kündigt öffentlich in seiner früheren Schule seinen Konsens auf: »Da der Staat aber seine eigenen Gesetze nicht wahrt, bin ich von meinem Amtseid entbunden.«
Dieser mutige Schritt hat ihn umfassend befreit. Von der Schule geht er zu einer Blumenfrau, mit der ihn einst ein Liebesverhältnis verbunden hatte, aus dem er sich in Anerkennung der herrschenden Konventionen wieder herausgelöst hatte, und läßt seiner Frau Blumen schicken. Und im Restaurant seines alten Schulfreundes, das er lange gemieden hatte wegen des ihn bedrückenden öffentlichen Aufsehens, das er seit dem Tod des Sohnes überall erregte, bestellt er für sich und seine Frau ein Abendessen.
Die schreckliche Wahrheit des Buchs von Hein aber ist: Der Pensionär hat nun zwar den Frieden mit sich und seiner nächsten Umgebung wieder gefunden, doch der Leser weiß, mit seiner Kündigung ist er da angekommen, wo sein Sohn begann. Der aber ist mitsamt der ganzen RAF längst gescheitert. Heins Held in der Landnahme schaffte es, in der bürgerlichen Welt der Bundesrepublik anzukommen. Das Opfer, das er dafür zu bringen hatte, war, Frieden zu schließen mit den Mördern seines Vaters. Der Vater des ermordeten RAF-Mannes findet seinen Frieden in der Absage an eben diese Gesellschaft. Doch wie diese Negation gelebt werden kann, bleibt offen – es sei denn, man ist Pensionär.

Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten. Roman, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005, 270 Seiten, 17,90 Euro