Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 11. April 2005, Heft 8

Bedarfs- statt Solidargemeinschaft

von Harry Nick

Am Buchende angelangt, ist die anfängliche Verwunderung darüber verflogen, wie man einen Monat vor dem Start dieses Hartz-Projekts eine Abrechnung wagen konnte. Der Buchgegenstand wird ins Prismenlicht gestellt: Die Grundfarbe wie ihr zerlegtes Spektrum werden sichtbar. Welcher Menschenschlag wird hier zugerichtet, sozial geformt? Die Autorin: Der Single, ohne Kinder, am besten im Retortenglas gezeugt, damit auch Eltern nicht in der »Bedarfsgemeinschaft« auftauchen; der nichts für die Zukunft zurücklegt, weil er vor gewährtem Gnadenbrot ALGII von allem enteignet wird, was das geringe »Schonvermögen« übersteigt. Neue sozialdemokratische »Bedarfsgemeinschaft« statt der von Bebel, Wilhelm Liebknecht und ein wenig Marx überkommener Solidargemeinschaft. Jede Art von Zweisamkeit werde in der »Bedarfsgemeinschaft« finanziell geahndet. Aber die Familie soll es richten. Was aber ist die Familie in der Hartz-IV-Gesellschaft? »Papi, Mami, Trauschein – und 1,2 Kinder auf der Wickelkommode? Die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit dem Sohn der vorletzten Lebensabschnittspartnerschaft der übernächsten Geliebten? Der allein erziehende Vater mit der allein frühstückenden Tochter?«
Die Autorin geht ins Große und ins Detail. Wußten Sie, lieber Leser, wie der Sozialhilfe- und nun der ALGII-Satz überhaupt zustande kommen? Die Autorin sagt es Ihnen: Dem liegt ein »Warenkorb« zugrunde. Wie mit dem geknausert wird, wie auch mit dem Taschengeld in Pflegeheimen, offenbart die Erbärmlichkeit der Regierenden und der sie rechts überholenden Opposition wie kaum was sonst. Jeder Zweifel wird präzise ausgeräumt: ALGII ist ein Bruch des Grundgesetzes, das den Staat verpflichtet, durch soziale Sicherung jedem Bürger ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Hartz IV ist durch Gesetz verordnete Armut. Ebenso unzweifelhaft wie der Bundespräsident gegen das GG-Gebot der Angleichung der Lebensverhältnisse in deutschen Regionen anredet.
Es ist auch die Sprache einer exzellenten Journalistin und Schriftstellerin, die den Leser auf das noch nicht Gelesene begierig macht. Die in den Text eingestreuten persönlichen Briefe der Autorin (an die Grünen, an die deutsche Wirtschaft, an unsere Kinder, an die Ostdeutschen) sind köstliche Literatur über bittere Gegenstände. Eine exzellente Ökonomin, Sozialwissenschaftlerin ist sie auch. Man liest mit Gewinn auch ihre Ansichten, die man mit ihr nicht teilen will, wie ich ihre durchweg nihilistische Wertung des Wirtschaftswachstums.
Am Buchende angelangt, mag sich auch derjenige sagen, der diese unsäglichen Hartz-IV-Gesetze, Vorschriften, Kommentare, ALGII-Anträge und die Debatten hierüber kennt: Dieses Buch hat mir gefehlt.

Gabriele Gillen: Hartz IV. Eine Abrechnung, Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg 2004, 254 Seiten, 7,90 Euro