Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. März 2005, Heft 6

Menschen-Vernutzung

von Frank Hanisch

Jüngst erschien ein Band über die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in dem die Entwicklung von Genetik und Humangenetik – damals war Deutschland neben den USA in diesen jungen und innovativen Wissenschaftsfeldern führend – in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus analysiert wird. Im Mittelpunkt steht der Tierzüchter und Erbpathologe Hans Nachtsheim (1890-1979), der als moderner Wissenschaftler primär eine praktische Anwendung seines Wissens zum Ziel hatte.
Zwischen den Weltkriegen wurde im Zuge deutschen Autarkiestrebens versucht, mit technischen Mitteln und industriellen Methoden den landwirtschaftlichen Ertrag zu steigern. Mit dieser Intention sollten auch Tierstämme standardisiert werden, wobei der tierische Modellorganismus zugleich als Stellvertreter für Experimente am Menschen angesehen wurde. Es wurde daran gearbeitet, Versuchstierstämme mit speziellen Erbkrankheiten und Mißbildungen, die auch beim Menschen vorkommen, zu züchten. Außerdem wurde untersucht, inwieweit die erbliche Veranlagung das Auftreten von Krankheiten, zum Beispiel der Volkskrankheit Tuberkulose, beeinflußt. Nachtsheim war seit 1922 mit dem Aufbau der Tierzucht am Institut für Vererbungsforschung in Berlin-Dahlem Protagonist dieser Entwicklung.
Das 1933 verabschiedete Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GVeN), das die Zwangssterilisation von Menschen mit bestimmten Krankheiten und Anomalien regelte, schuf für die Entwicklung von Eugenik und Erbpathologie ein günstigeres Klima. Nachtsheim betonte in den dreißiger und vierziger Jahren einerseits immer wieder den Vorteil der Tierexperimente für den Erbforscher gegenüber der Humangenetik mit ihrer Beschränkung auf die Zwillingsforschung. Andererseits bestieg er 1943 mit mehreren geistig behinderten Kindern im Alter von elf bis dreizehn Jahren aus der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden eine Unterdruckkammer der Luftwaffe, um auszutesten, ob Sauerstoffmangel, wie er in einer Höhe von 6000 Metern herrscht, bei Kindern dieses Alters epileptische Anfälle auslösen kann. Jeder wissenschaftliche Teilnehmer konnte sofort eine Sauerstoffzufuhr veranlassen oder den Versuch abbrechen. Krampfanfälle wurden nicht provoziert.
Dieses Experiment läßt sich in die Suche nach einem funktionsfähigen experimentellen Modell für die Epilepsie am Menschen einordnen. Epileptische Anfälle zu provozieren, war in jenen Jahren an psychiatrischen Kliniken in Ermangelung wirksamer medikamentöser Alternativen bei einer Vielzahl von Erkrankungen gängige Praxis. Nachtsheim hatte zuvor bei Weißen Wiener Kaninchen, insbesondere Jungtieren, mit Cardiazol und durch Sauerstoffmangel Krampfanfälle auslösen können, was sich in das Konzept der »unterschiedlichen Krampfschwelle« einordnen ließ. Gleichzeitig galt die »Höhenkrampfschwelle« als wichtiger Parameter für die Leistungsfähigkeit von Piloten.
Nachtsheim bewegte sich mit diesen Experimenten einerseits im Gebiet gängiger und akzeptierter biomedizinischer Experimentalpraxis – gleichwohl nach Kriegsbeginn im Gefolge schleichender Militarisierung der Wissenschaft –, andererseits aber war er dabei, eine Grenze wissenschaftlicher Moral zu verletzen. Beispielhaft für die Netzwerke aus Ressourcen, institutioneller Kooperation und informellen Austauschs ist Nachtsheims Zusammenarbeit mit der fanatischen Nationalsozialistin Magnussen, die für Pigmentuntersuchungen Augenpräparate von Mengele aus Auschwitz erhielt. Dabei handelte es sich zwar offensichtlich nicht um eine inhaltliche, wohl aber um eine technische Kooperation zwischen ihnen – beide nutzten das experimentelle Know how der Kaninchenforschung am Institut. Beide, Magnussen und Nachtsheim, waren zudem in einem Umfeld tätig, in der die Grenze für die Verfügbarkeit von Menschen für Versuchszwecke ständig weiter verschoben wurde. Von Schwerin führt in diesem Zusammenhang zutreffend den Begriff der »Vernutzung von Menschen« ein.
Leider findet sich im Buch kein abschließendes Kapitel, das beleuchtet, welche Positionen Nachtsheim in der Zeit der jungen Bundesrepublik als öffentliche Person und als Leiter des Max-Planck-Instituts für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie in Berlin zu naturwissenschaftlichen und medizinischen Fragen einnahm.

Alexander von Schwerin: Experimentalisierung des Menschen. Der Genetiker Hans Nachtsheim und die vergleichende Erbpathologie, 1920-1945, Wallstein Verlag Göttingen, 424 Seiten, 33 Euro