von Achim Engelberg
Ehe der Literatur- und Theaterwissenschaftler Werner Mittenzwei sich eine größere Arbeit vornimmt – ob Biographie oder Essay, ob Abhandlung oder Theorie –, denkt er nach über die Gesetze des jeweiligen Genres. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit im »Zwielicht« entschied sich der Autor für ein populäres: die Autobiographie. Allerdings kam das Genre in letzter Zeit ziemlich herunter. Mittlerweile stapeln sich in den Buchhandlungen Autobiographien von Supermodels und Fußballern – Starvehikel für Idioten. Schlägt man das Buch von Mittenzwei auf, nennt er sein Genre »eine kulturkritische Autobiographie«. Das Selbstportrait – im Zeitgeist zwischen Plauderei, Werbung und Rechtfertigung angesiedelt – kommt beim Theaterwissenschaftler Mittenzwei als streng gebauter Fünfakter daher:
Erster Akt. Die durch den Krieg erschütterte Zentralgestalt kehrt in die Trümmer des besiegten Deutschlands zurück. Sie erlebt das Paradox, daß »die antifaschistische Schule nicht von bewährten Antifaschisten auf den Weg gebracht wurde, sondern von verführten jungen Leuten, die zu Antifaschisten wurden.« Der Neulehrer Mittenzwei sucht sich selbst einen Lehrer und findet ihn in Hans Mayer, zu dessen Vorlesungen er regelmäßig nach Leipzig fährt.
Zweiter Akt. Der noch jugendliche Held zieht nach Berlin, fasziniert von Brechts Ensemble, von Musikwissenschaftlern wie Georg Knepler, von Publizisten wie Wolfgang Harich. Allmählich steigt er selbst schreibend in die Arena der kulturpolitischen Auseinandersetzungen. 1962 erscheint sein erstes Buch Bertolt Brecht. Von der »Maßnahme« zu »Leben des Galilei« im Aufbau-Verlag.
Dritter Akt. Der sich etablierende Held marschiert durch die Institutionen, pendelt zwischen den beiden Akademien, der der Wissenschaften und der der Künste, und dem Berliner Ensemble, immer auf Grenzerweiterungen aus.
Vierter Akt. Mittenzwei erlebt den Untergang des Sozialismus, der sein Versprechen nicht erfüllte, ein besseres Zusammenleben der Menschen durch eine andere Antwort auf die Eigentumsfrage zu gewährleisten.
Fünfter Akt. Geschlagen erlebt er die Borniertheit der Sieger der Geschichte, also die der Besiegten von morgen, und beschließt, gegen deren lautes Getön seine leise Stimme zu erheben.
Widerspruchsvoll erzählt Mittenzwei vom Leben im untergegangenen Sozialismus und enthüllt sich als vom Ehrgeiz des Schreibens besessener Wissenschaftler, der Auslandsreisen nach Kairo, Damaskus, Neu-Dehli, Hanoi, Pjöngjang, Peking, Tokio und anderswo absagte, um mehr Zeit fürs Bücherschreiben zu haben, der frei und ohne Reue bekennt, die Toskana nie gesehen zu haben, und der drei Bücher über die Schweiz schrieb, in der er nur wenige Tage arbeitete. Ein Schiller der Wissenschaft, der sich die Welt durch polare geistige Positionen erschließt. Die intellektuelle Landschaft der Epoche wird besichtigt – die äußere Landschaft dagegen erscheint nur als knappe Bühnenanweisung.
So entstand ein Werk, grundiert durch die marxistischen Antipoden Brecht und Lukács, das den weiten Kreis des Exils umfaßt, nationalkonservative Dichter wie die der DDR. Zu beobachten, wie Mittenzwei sich in seiner Autobiographie, die auch eine Einführung in seine Bücher ist, in höchst unterschiedliche Positionen hineindenkt, diese in ihrem geistig-dramatischen Kern erfaßt, ist oft verblüffend und anregend selbst dann, wenn man seine Meinung nicht teilen kann.
Ein Einwand bleibt: Es wäre besser gewesen, wenn der Brechtherausgeber und -biograph, der möglichst ein dickes Buch von sich im Laden sieht, Brechts Wunsch nach Werken, die weniger Sitzfleisch benötigen, diesmal erfüllt hätte. Hundert Seiten weniger, wären mehr gewesen. Dennoch nimmt Zwielicht durch einen Grundton der Ehrlichkeit gefangen und glänzt intellektuell durch sein Denken in Widersprüchen. Es entfaltet ein Denktheater eines extremen Jahrhunderts, in dem Literatur und Kunst oftmals eine Rolle spielten jenseits des Ornaments. In dieser existentiellen Dimension der Kunst liegt der Stachel gegen eine Gegenwart, in der die Werbung zur Leitkultur geworden ist.
Werner Mittenzwei: Im Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit. Eine kulturkritische Autobiographie, Verlag Faber & Faber Leipzig, 511 Seiten, 29,70 Euro
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