Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. März 2005, Heft 6

Die Unversöhnliche

von Thomas Kuczynski

Jenen, die erst mit der sogenannten Wende Stalinismus, Feminismus und »Judenfrage« als Themen für sich entdeckten, zugleich – je nach »Geschlecht«, »Rasse« und politischer Couleur – mehr oder minder schaudernd ihre vormalige »Unterdrückung«, wird dieses Buch ein Ärgernis sein, hoffentlich. Was der Untertitel Ein Gegenleben verspricht, hält er, denn kein erst im nachhinein dazu stilisiertes Leben wird hier porträtiert, keines, von dem das ach so unschuldige Opfer »gezeichnet« war, sondern ein wirklich gelebtes Gegenleben.
»In ihr war etwas von einer geborenen Anarchistin«, erinnerte sich die ältere Schwester an Alexandra G. Ramm (1883-1963), russische Jüdin und dann, einige Jahre nach ihrer Ankunft in Berlin (1901), verheiratete Pfemfert. Über ihre erste Begegnung mit dem nachmaligen Herausgeber der Aktion schrieb sie fünfzig Jahre später: »Ich stand vor einem Umzug, und Senna Hoy« – ein heute vergessener Anarchist – »stellte ihn mir vor mit den Worten: ›Das ist Franz Pfemfert, er will Ihnen morgen beim Umzug helfen.‹ So begann die Hilfe, die er mir sein ganzes Leben geleistet hat.« Die Art, wie sie von seiner Hilfe schrieb, läßt schon ahnen, daß hier nicht das Leben einer »Gattin« abgehandelt worden ist. Auch nicht das einer überanstrengten Feministin, denn der wäre gewiß nicht in den Sinn gekommen, eine Rezension mit den Worten zu beginnen: »Ein Buch, geschrieben von einer Frau über die Frau. Beides mir unsympathische Tatsachen. Denn die Frauenprobleme, mögen sie noch so ›tief‹ sein, ›kompliziert‹, ›interessant‹ oder wie die Terminologie für diese Romane sonst lauten möge, mich interessieren sie nicht. Ohne ›Probleme‹ aufstellen zu wollen, haben Balzac, Tolstoi und Dostojewski die Frau besser verstanden und im Rahmen des Lebens richtiger gezeigt, als alle Schriftstellerinnen vom Fach ›Weib‹.«
Sechs Jahre später, 1927, schrieb sie zu einem anderen, heute ebenfalls »beliebten« Thema: »Jüdische Kultur ließe sich auch in Amerika, in Deutschland, in Rußland und in vielen anderen Ländern heute genauso gut verwirklichen wie in Palästina. Es soll vielmehr eine den profanen jüdischen Massen unzugängliche hebräische Kultur aufgebaut werden. Deshalb wurde zuallererst die jiddische Sprache in Acht und Bann erklärt. […] In den Straßen von Tel-Aviv kam eine ältere Frau an mich heran, um ganz ängstlich auf Jiddisch nach einer Straße zu fragen: in der Terroratmosphäre des Iwrith fühlte sich die Frau mit ihrem guten Jiddisch eingeschüchterter als in den Straßen von Berlin. […] Diese von der Exekutive planmäßig organisierte sprachliche Absonderung hat eine zionistische Hierarchie geschaffen und den Juden, der Jiddisch spricht, in Erez Israel zum Fremden gemacht. Das war mein tiefstes Erlebnis in Palästina.«
Wer in diesen Zeilen »linken«, von manchen zum Zwillingsbruder des Stalinismus hochstilisierten, Antisemitismus vermutet, dem ist vielleicht – sicher ist bei diesen Themen nichts – mit Ramms Besprechung des Romans Schokolade von Tarassoff-Rodionoff zu helfen. Sie beginnt mit der Feststellung: »Ich kenne kein zweites Buch aus der neueren sozialistischen Erzählungsliteratur, das so spannend, aktuell und wichtig wäre, wie dieses«, zitiert die Argumente, mit denen dem Romanhelden sein Todesurteil mitgeteilt wird: »Nein, wir haben einfach geurteilt, wie du. Dich trifft keine Schuld. Und andererseits haben wir keinen anderen Ausweg. Man muß etwas Schreckliches, Grausames tun, man muß es, denn sonst ist unsere Sache bedroht«, fragt: »Ist das nicht der Großinquisitor Sinowjew, der da spricht?« und bemerkt schließlich: »Sudin [der Held des Romans] fiel als Opfer eines Systems, seines Systems. Und der Mord an Sudin ist kein Justizmord, sondern ein Parteimord. Einer Partei, die zwar der Vorposten einer Klasse des Proletariats sein will, diese Klasse aber von jedem Einfluß so radikal ausgeschlossen hat, daß die Mitglieder vor keinem Forum dieser Klasse sich rechtfertigen können.« So schrieb sie im September 1924, und es war nicht von Stalin die Rede.
Gewiß, Ramm und Pfemfert waren, wie ihr Kritiker Horst Fröhlich 1925 schrieb, Antibolschewisten, später selbstverständlich Antistalinisten; aber sie waren keine Gegner der Sowjetunion. Auch dies verband sie mit Trotzki, dessen Hauptwerke Ramm ab 1929 übersetzte, und mit dem sie beide, obwohl sie ihm nie begegneten, so gut Freund wurden, daß sein Biograph Broué wähnte, Trotzki sei schon vor dem Ersten Weltkrieg mit ihnen befreundet gewesen. Die Lektüre des im Anhang abgedruckten Briefwechsels zeigt Ramm – nicht als Trotzkistin (als die sie und Pfemfert selbstredend beschimpft wurden), vielmehr als politisch souveräne Übersetzerin seines Werks, die sich auch um seine erwachsenen Kinder kümmerte.
Bei ihrer Flucht aus Deutschland brachten die beiden noch in Berlin einen Koffer mit Papieren Trotzkis in Sicherheit. Sonst retteten sie nichts als das nackte Leben. Pfemfert verwand diesen Schlag nie. Er trug, mit abnehmendem Erfolg, als Fotograf zu ihrem Überleben bei. Ein offener Brief, in dem er im August 1936 Gide, Masareel, Heinrich Mann, die Oldens, Feuchtwanger, Arnold Zweig, Sinclair »und alle politisch und moralisch mit der Sowjetunion sympathisierenden Intellektuellen« aufforderte, gegen den Moskauer Schauprozeß Stellung zu beziehen, blieb ohne Wirkung, ebenso seine Aufforderung, »daß Ihr nicht kurzsichtig, feige oder von falscher Rücksicht auf die Sowjetunion, der wir nicht erst seit kürzester Zeit, sondern seit dem Oktober 1917 die Treue halten, die Sache der Freiheit und der konzessionslosen Wahrheit preisgebt, indem Ihr durch Euer Schweigen das berüchtigte ›kleinere Übel‹ stützt, das tatsächlich ein gräßliches Unheil ist.« 1937 übersetzte Ramm von Trotzki Stalins Verbrechen.
Danach wurden die publizierten Aktivitäten schwächer, der Überlebenskampf und die beiden zeitlebens eigene Unversöhnlichkeit hatten ihren Preis, unter anderem auch den, daß sie nicht in die USA einwandern durften und statt dessen in Mexiko ohne Freunde, die Sedowa (Trotzkis Witwe) ausgenommen, überleben mußten; die Stalinisten (Kisch, Ludwig Renn, Otto Katz und so weiter) zählten für sie nicht, erst recht nicht (nach dem Kriege) die »verhinderten Stalindamen, die jetzt Antistalinismus mimen« – Babette Gross und Margarete Buber-Neumann.
Während Pfemfert meinte, sie hätten »umsonst gelebt« – »Der Stiefelputzer an der Straßenecke hinterläßt mehr Leuchten als unser ganzes Lebenswerk« –, hatte Ramm, nach seinem Tode (1954) wieder in Berlin (West), die Freude, einen Reprint sowie Nachdrucke aus der Aktion begleiten zu können. Auch diese Biographie hätte ihr wohl Freude bereitet, denn sie ist, obgleich eine Dissertation, völlig unprätentiös geschrieben, verständlich, engagiert – in ihrer Art ganz der Porträtierten entsprechend.

Julijana Ranc: Alexandra Ramm-Pfemfert. Ein Gegenleben, Edition Nautilus Hamburg, 575 Seiten, 44 Euro