von André Brie
28. Januar, auf dem Flug nach Diyarbarkir, in der östlichen Türkei: Ich weiß nicht, ob es tatsächlich klappen wird, zur Wahlbeobachtung in den Irak zu gelangen. Das Europäische Parlament hat es »aus Sicherheitsgründen« ebenso wie alle nationalen Parlamente abgelehnt, eine Delegation zu entsenden. Heute um Mitternacht wird zudem die Grenze geschlossen und der Fahrzeugverkehr im Irak weitgehend verboten. Ich mußte alles privat organisieren, über einen kurdisch-holländischen Genossen und seine Kontakte in den Irak. Nun kann ich nur hoffen, daß die vielen logistischen Probleme lösbar sein werden: Mit dem Taxi dreihundert Kilometer zur irakischen Grenze, dann trotz Sperrung durch die türkischen Kontrollen in den Irak. Dort soll ich erwartet und mit dem Auto ins Land gebracht werden.
Die Wahlen finden unter Besatzung und ohne Sicherheit statt. Im Süden setzen schiitische Geistliche ihre Frauen unterdrückende Ideologie durch (gegenüber dem Iran wird sie von den USA kritisiert, in ihrer irakischen Kolonie tolerieren sie sie und hofieren ihre Verfechter!). Im Norden haben die beiden großen kurdischen Parteien PUK (Patriotic Union of Kurdistan – von ihr bin ich eingeladen worden) und KDP (Kurdish Democratic Party) eine Einheitsliste zusammengezimmert, die aus der Wahl eine Abstimmung wie in der ehemaligen DDR machen kann. Allerdings ist diese Entscheidung nicht unverständlich und kann schwerlich aus einer abstrakten europäischen Perspektive kritisiert werden. Die Kurden wurden nicht erst von Saddam Hussein geknebelt, sondern seit Jahrhunderten unter allen Mächten unterdrückt (Osmanen, Türken, Persern, Arabern, Briten, Franzosen).
Bagdad und der ganze mittlere Irak werden von Terror und Einschüchterung beherrscht. Demokratische und freie Wahlen sind nicht möglich. Die Wahlbeteiligung in den sunnitischen Gebieten wird mit Sicherheit (durch Unsicherheit) und durch den verbreiteten Protest unterdurchschnittlich sein und damit zu einer Verzerrung der Kräfteverhältnisse im irakischen Parlament zu Ungunsten der Sunniten führen. Aber viele Menschen und politische Organisationen im Irak setzen dennoch große Hoffnungen in diese Wahlen. Gerade Kritiker des amerikanisch-britischen Krieges und der Okkupation, glaube ich, sollten auch ihre Verbundenheit mit diesen Menschen zeigen. Ich weiß bereits jetzt, daß viele von ihnen meine Kritik der Wahlen nicht verstehen werden.
29. Januar 14 Uhr, Grenzstadt Habur: Es dauert an der Grenze. Die türkischen Grenzer sind freundlich, aber so recht wissen sie nicht, was tun, da der Irak die Grenze geschlossen hat. Die sprachliche Verständigung ist schwer, kaum einer der vielen Verantwortlichen, zu denen man mich schleppt, spricht Englisch. Aber dann gibt es doch das Ausreisevisum.
Wir sind rüber, werden jetzt von irakischen Soldaten oder Polizisten kontrolliert. Nein, von kurdischen – im Warteraum hängt die kurdische Fahne. Ein Mann vom auswärtigen Ausschuß der PUK und einer von der KDP erwarten uns. Im Landrover mit einem MPi-bewaffneten Soldaten hinter mir und einem zweiten im Auto mit Soldaten geht es los ins Land. Mein Begleiter korrigiert mich als ich vom Nordirak sprechen: »Welcome to South Kurdistan«.
30. Januar, 9 Uhr, Sulaimanya: Nachrichten haben wir nicht, besser gesagt, was als Nachricht im Radio und Fernseher läuft, verstehen wir nicht. Gestern soll es keine Toten gegeben haben, erzählt man uns. Trotz der extremen Sicherheitsvorkehrungen und dem Fahrverbot wird es kaum überall im Land so angespannt ruhig sein wie hier in Sulaimanya.
Ehepaare und Familien gehen festlich gekleidet zur Wahl. Ihre Freude, ich glaube auch Stolz, sind erkennbar und in dieser Region alles andere als überraschend. Was auch immer einer wie ich von dieser Wahl hält und für wie problematisch oder gar gefährlich er ihre möglichen Folgen für den Irak und die ganze Region sieht – für die meisten Kurdinnen und Kurden im Irak kann es nicht anders als ein großer, lang ersehnter Tag sein. Ältere Frauen kommen schwarz verschleiert die Straße heran, ihre Männer tragen das traditionelle kurdische Gewand mit einer Art Pluderhosen und dem dicken Schal um den Bauch oder dem Tuch, das wir Palästinensertuch nennen, um den Hals oder auf dem Kopf. Andere Frauen tragen bunte Gewänder und haben ihre zauberhaft herausgeschmückten Kinder dabei.
17 Uhr, Stimmenauszählung in einem Wahllokal: Kurz vor 17 Uhr waren die letzten Wähler schon weg. Die drei Wahllokale in dieser Schule schließen pünktlich. Vier agile Frauen, eine von ihnen nach dem anstrengenden Tag sogar immer noch ansteckend fröhlich, und drei Männer gehören zum Wahlvorstand. Glücklicherweise ist ein Mann dabei, der ein wenig Englisch kann und mir die Ergebnisse übersetzt. 390 Stimmzettel sind in den Urnen. Die Auszählung beginnt mit den Stimmen zum irakischen Parlament. Das Siegel wird aufgebrochen, die Zettel werden gezählt und auf den Stempel kontrolliert, mit dem Fälschungen verhindert werden sollen. Die Zahl stimmt exakt (da fünf jeweils einige Stapel zählten, fürchtete ich, die vielen Köche könnten den Brei verderben und die Zählerei müßte von vorn beginnen, doch es klappte auf Anhieb). Danach wird das Siegel der zweiten Box (für die Stimmen zum kurdischen Parlament) gebrochen. Auch hier wird die Zahl der Stimmzettel gecheckt (diese Stimmzettel sind kleiner, ebenso jene für den Gouvernementsrat, einige – exakt drei – sind in der falschen Box gelandet und werden aussortiert). Diesmal muß doch neugezählt werden. Der Fehler wird aber rasch gefunden. Die Genauigkeit, mit der die Sieben arbeiten, ist schön und überzeugend, die eine oder andere alte Demokratie könnte sich ein Beispiel daran nehmen. Zum Schluß kommt die dritte Box (Stimmen zum Rat des Gouvernements Sulaymaniyah). In ihr finden sich logischerweise die drei vertauschten aus der zweiten Wahlurne. Fast anderthalb Stunden sind vergangen, als nun der eigentliche Akt beginnen kann, die Auszählung der Stimmen. Sie arbeiten sehr, sehr sorgfältig, alles wird dreifach kontrolliert und gezählt. Immerhin stehen 111 Parteien, Listen und unabhängige Kandidaten auf dem Stimmzettel zum irakischen Parlament. Die kurdische Liste erhält hier erwartungsgemäß bei weitem die meisten Stimmen (354). Zwei der Männer kommentieren jede der wenigen anderen Kreuze mit verständnisloser Heiterkeit. Auf dem zweiten Platz landet die islamische kurdische Gemeinschaft im Irak (16 Stimmen). Eine irakische Liste erhält drei Stimmen, zwei die Irakisch-Demokratischen Kurden (ich weiß aber nicht, ob mir die Namen wirklich richtig ins Englische übersetzt worden sind). Ein Zettel ist leer, ein Wähler hat gleich drei Parteien angekreuzt, ein anderer zwei (ungültig), usw. Erneut stimmt alles zahlenmäßig überein.
Formal hat zumindest hier alles gestimmt. Politisch jedoch stimmt fast nichts für freie und demokratische Wahlen.
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