Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 28. Februar 2005, Heft 5

Hoffnung

von Andreas Trunschke

Mag mit dem Treffen der selbsternannten Eliten in Davos die Macht sein, mit dem Weltsozialforum in Porto Alegre ist die Hoffnung. Was wird bleiben vom fórum social mundial 2005, von diesen sechs Tagen in einer anderen Welt? Für mich bleibt vor allem der Blick vom Dach der Usina do Gasômetro, dem zum Kulturhaus umgebauten alten Gaswerk direkt am Ufer, dessen Schornstein weithin Orientierung gibt. Das Kulturhaus, ein Kind des Bürgerhaushaltes, war Sitz des Organisationskomitees und nicht nur geographisch Mittelpunkt des Forums. Steht man auf dem Dach, im Rücken die sich auftürmende Stadt und die Favelas in ihrem Umland, geht der Blick über das weite Wasser der Lagune von Porto Alegre in die Ferne. Nach rechts und nach links schwang sich das Forum die Ufer entlang.
Rechts blickte man auf die alten Hafenanlagen, deren stillgelegten Hallen den ersten vier Schwerpunkten des Forums Raum boten: A – Wissen und Wiederaneignung von Technologien; B – Diversität, Pluralität und Identität; C – Kunst und Kultur und D – Kommunikation. Im Hafenbereich konnte man zahlreiche Kunstausstellungen sehen, hauptsächlich Fotos. An einer Hafenmauer entdeckte ich ein Lula-Plakat, dessen Aussage mich berührt hat. Das bärtige Gesicht ist nur angeschnitten. Offensichtlich sitzt die einstige Hoffnung der Armen Brasiliens, der jetzige Präsident des Landes in einem Flugzeug. Sein ernster, nachdenklicher, fast trauriger Blick geht durch zwei Flugzeugfenster in die Weite. Er ist einsam. Er trägt die Verantwortung. So viele haben sich schon enttäuscht abgewandt. Er will Hoffnungen erfüllen. Will er? Kann er?
Nach links blickte man vom Gasometer kilometerweit den Strand entlang, der keiner ist, weil das Wasser zu verschmutzt ist, als daß man darin baden könnte. Überall standen große weiße Zelte, dazwischen einige Lehmbauten mit Grasdach. Die sind am Computer konstruiert, wie man einigen Anschauungstafeln entnehmen kann. Auf halber Strecke fanden sich die Wagen der Nomaden der Galaxis, die in ihren Veranstaltungen viel mehr miteinander ratschlagten als sich gegenseitig etwas vorzutragen.
Weit hinten sah man die große Bühne, auf der das Eröffnungskonzert mit Gilberto Gil stattfand. Irgendwo auf dem Weg dorthin spielten die vier Leute der Gruppe Vientosur auf ihren lateinamerikanischen Instrumenten und sangen mit wunderbar samtenen Stimmen. Sie spielten sehr verschiedene Lieder, sie spielten auch die Internationale, die so lange nicht mehr gehörte. Sie spielten sie so zärtlich, wie ich sie noch nie vernommen habe. Das alte Kampflied von Eugéne Pottier klang wie ein Liebeslied. Verzaubert blieben die Leute stehen, alte und junge, weiße und schwarze, mandeläugige und blonde.
An der Promenadenstraße standen unzählige Verkaufsbuden und boten Kitsch, Ramsch, aber auch kreatives Kunsthandwerk feil. An der Rückseite der Straße befand sich das unüberschaubare Zeltlager der Jugend. Manche Zelte standen so dicht, daß man kaum einen Weg hindurch fand. Vierzigtausend junge Leute sollen es gewesen sein, die hier ihre ganz eigene Kultur lebten. Alles wirkte noch ungezwungener, lebendiger und spannender, als es so schon auf dem Forum zuging.
In den Veranstaltungszelten wurde zu den restlichen sieben Schwerpunkten diskutiert. Hier habe ich neues Wissen gefunden und interessante Menschen getroffen, berühmte und nicht so bekannte. Wir haben Ideen, Erfahrungen und E-Mail-Adressen ausgetauscht. Unser Netz, das die ganze Erde umspannt, ist wieder ein wenig dichter geworden. Gegenüber den Seminaren beim vorigen Weltsozialforum im indischen Mumbai waren die Debatten analytischer, konkreter, breiter und praxisorientierter – jedenfalls in den Veranstaltungen, die ich besucht habe; die zur partizipativen Demokratie.
Man merkt deutlich, daß sich die Idee ausbreitet und vertieft. Bei anderen Themen mag das besser oder schlechter gewesen sein. Was wurde nicht alles diskutiert?! E – Verteidigung der Erde und der Gemeingüter; F – soziale Kämpfe und demokratische Alternativen; G – Frieden, Demilitarisierung und der Kampf gegen Krieg, Freihandel und Schulden; H – internationale Demokratie und die Integration der Menschen; I – souveräne Ökonomie für und durch die Menschen, gegen den neoliberalen Kapitalismus; J – Menschenrechte und Würde in einer einheitlichen Welt; K – Ethisches und Spirituelles. Ich empfand das Forum als links, tatsächlich aber ist es viel, viel breiter. Es einte und eint viele, die sonst nebeneinander leben, ja zu oft sogar gegeneinander kämpfen.
Was war das, was ich erleben durfte? Ein großer Kirchentag, bei dem sich die Menschen ihres Glaubens versichern und beseelt nach Hause gehen? Das auch; aber es war noch viel mehr. Es war ebenso ein anspruchsvoller Kongreß und ein Kulturfestival. Es war ein Volksfest, an dem – anders als in Mumbai – teilnehmen konnte, wer wollte. Hier wurde neues Wissen geboren und über Strategien geredet. Es ging um Visionen und praktische Vorschläge. Hier wurden neue Aktionen verabredet, zum Beispiel der globale Aktionstag gegen den Krieg am 19. beziehungsweise 20. Mai dieses Jahres. Das Forum lieferte erste Konstruktionspläne und Baustoffe für eine bessere Welt, vor allem jedoch eine tiefe Sehnsucht nach einer Welt, wie wir sie sechs Tage lang in Porto Alegre erahnen durften.
In Deutschland stieg ich fröstelnd aus dem Flugzeug. Erstmals seit siebzig Jahren – so die erste politische Nachricht aus Deutschland, die mich erreichte – ist die Zahl der Arbeitslosen über fünf Millionen gestiegen. Die Deutsche Bank will trotz saftiger Gewinne Tausende entlassen. Mir fällt die Broschüre in meinem Rucksack ein: Good jobs, bad jobs, no jobs, die den Arbeitsmarkt in Ägypten, El Salvador, Indien, Rußland und Südafrika analysiert, nicht den in Deutschland.
Das Weltsozialforum bleibt nahe. Ich erinnere mich an den informativen Flyer über die »esconomia solidária«, die solidarische Ökonomie, und lasse mich die Wärme des Forums nachempfinden. Um outro mundo é possível, eine andere Welt ist möglich. Eine andere Welt ist notwendig. Eine andere Welt ist vielfältig, aufregend, kompliziert und vor allem solidarisch – sie ist lebenswert. Sie lohnt, erkämpft zu werden. Obrigado, danke, companheiros. Obrigado, Porto Alegre.