von Eckhard Mieder
Daß Deutschland untergeht, ist beschlossene Sache; nur wann es untergeht – das ist ungewiß. Eine Bürokratie im Übermaß. Besitzstandsverteidiger ringsum. Lethargie, durch die kein Ruckzuck geht. Keinerlei Wertorientierung außerhalb des Vaterlands aller Deutschen: Geld. So richtig drauf gebracht hat mich heute Herr G.
Wir trafen uns im Hausflur. Er hatte ein Paket für mich in Empfang genommen. Es kam vom Südwestrundfunk und enthielt fünf VHS-Kassetten meines Filmes über die Jugend in den siebziger Jahren. Ich erzählte ihm von dem Film, er meinte, der würde ihn interessieren. Ich sagte lax zu ihm, daß er eine VHS haben könne, aber ob ihm meine Sicht der siebziger Jahre gefalle … Eher fraglich.
»Das macht doch nichts«, meinte Herr G. Er liebe es zu diskutieren. Eine andere Meinung sei doch gut!
Und dann sagte er gleich: »Deutschland ist am Ende. Wie soll das weitergehen.« Ich weiß das auch nicht. »Das fängt schon damit an, daß wir keine eigene Währung mehr haben. Und dann sind so viele Nationalitäten gemischt. Früher, das können Sie mir glauben, haben wir aufgebaut. Da war eine Aufbruchstimmung! Nicht nur das Materielle gesehen. Ich hätte ein Haus haben können. Ich kannte einen aus dem Vorstand (Herr G. war Bauingenieur, Bauleiter, hat sich verdient gemacht um den Frankfurter Flughafen – d. A.), der hat mir so was angeboten. Wollte ich nicht. Mal’n Präsentkorb! Aber sonst …«
Ich stand einen Treppenabsatz höher, Herr G. sah mit seinen blauen Augen zu mir hoch.
Das Ende haben wir alle vor Augen, immer. Aber wann fing es gut mit Deutschland an? Nach dem Zweiten Weltkrieg? Mit dem Zweiten Weltkrieg? Oder war der wiederum nur das ärgerliche Ergebnis eines hoffnungsvollen Beginns mit Hitler?
Ich wollte ins Fachliche zurück und erzählte ihm, daß ich am Vormittag auf der Baustelle des neuen Frankfurter Frischemarktes in Kalbach gedreht habe. »Hätte Ihnen gewiß gefallen«, sage ich, »Ihnen als Baulöwe!«
Eine aus vier viereckigen Stelen bestehende, dreißig Meter lange Säule wurde errichtet. Die Firma Bögl, die sowieso die Großmarkthalle baut, goß sie in Beton. Sie wird des Nachts mit grünem Licht übergossen weithin leuchten und von Obst und Gemüse künden.
Der Fahrer des Schwertransporters, dies nebenher, stand in seinem blauen Overall vor mir und sprach so begeistert vom Familienunternehmen der Bögls, daß ich dachte: In Deutschland geht noch was, in Deutschland gibt es noch Firmentreue, in Deutschland kann einer noch begeistert sein, wenn er von seiner Arbeit spricht.
Erhabenheit, doch.
Etwa zwei Stunden brauchte es, um die Betonstele zu verzurren. Erhabenheit, als es sich endlich erhob aus seinem Betonlochbett.
Nur ich und der Kameramann, wir waren bleich vor Kälte und der Ohnmacht nahe. »Hätte Ihnen bestimmt Spaß gemacht«, sagte ich Herrn G., »nur scheiße kalt und feucht war es.« »Aber das ist doch ein tolles Erlebnis«, sagte er. Ich glaube, er mag es, wenn Männer drei, vier Stunden ausharren können ohne zu weinen.
Daran ist nichts Schlechtes. Erhabenheit, das ist es, was Deutschland fehlt, respektive Erhobenheit?
Wir verabschiedeten uns mit den besten Wünschen für den Abend. Als ich in meiner Stube das Paket öffnete – fand ich nicht meinen Film vor, sondern den eines Kollegen. Der hatte über Konsum in den Siebzigern gedreht. Ein Verpackungsirrtum der Sekretärin? Eine Schlamperei der Produktionsleitung?
Der Niedergang Deutschlands – wie ich ihn schon einmal im Deutschen Viertel DDR erlebt habe? In der Deutschen Demolierten Republik, wie mein schottischer Freund Douglas 1990 in Madrid meine Heimatland nannte?
Aber wohin kann die Bundesrepublik sich selbst verlassen?
Deutschland ist am Ende, das packen wir nicht mehr, das müssen die Enkel besser ausfechten.
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