von Eckhard Mieder
Ganz Hessen ist bewölkt, auf Frankfurt sind ein paar Regentropfen gefallen, und Herr G. erzählt mir von seiner Flucht aus Pommern. Er trifft mich vormittags bei meinem Rückweg von der Trinkhalle auf der Kaiser-Siegmund-Straße. Dort kaufe ich beinahe täglich Zeitungen, mal drei, mal vier.
»Was für ein Wetter!«, sagt Herr G. Und er sagt, daß er, seine Frau und der Schäferhund, der die Gewohnheit hat, jedem Fremden im Schritt zu schnüffeln, ab übermorgen für drei Wochen Urlaub am Bodensee machen. Sie fahren seit langem einmal im Jahr zum Bodensee.
»Wie wir«, sage ich, (meine Frau, ich und unsere Tochter), »jedes Jahr mindestens einmal auf den Darß fahren.«
»Das ist ja interessant!«, sagt Herr G. und strahlt mich aus seinen altersresistent blauen Augen an. Er sei in Rostock geboren. Sein Vater sei Zöllner gewesen. Deshalb seien sie alle fünf Jahre umgezogen. Zuletzt, also 1945, haben sie zwischen Stettin und Danzig gewohnt.
In Gdan´sk war ich grade, eines Filmes wegen. Und in Sczeczin … »Sczeczin«, sage ich, »kenne ich.« Aber ich erzähle ihm nicht die Geschichte, wie einst meine Eltern und ich auf dem Markt betrogen worden waren. Meine Eltern kauften einen geräucherten Aal, und als wir den daheim essen wollten, enthäutete der sich zur Rhabarberstange. Trotzdem hatten wir nie wirklich was gegen diese Polen.
»Das war ja schrecklich in der Diktatur«, sagt Herr G. Er meint die DDR. »Nun«, sage ich, »wir hatten auch unsere Freude.« »Jajaja, man paßt sich an. Mein Vater trug auch das Bonbon. Mußte er ja, als Zöllner.« Aber er habe einen Schulfreund gehabt, der Herr G. Der war der Sohn eines Agrariers, feine Menschen, die nie mit Heil Hitler gegrüßt haben und gut zu ihren Leuten waren. Man konnte durchaus Distanz wahren zum System.
Und dann erzählt Herr G., wie er als NAPOLA-Schüler mit nur fünf Schuß und einem Karabiner fünf junge Leute in die Heimat brachte. Unterwegs habe er schreckliche Dinge gesehen. Da hing ein junger Leutnant mit dem Schild um den Hals Ich bin ein Deserteur an einem Ast. Bauern haben ihn gebeten, ihre verwundeten Pferde zu erschießen. Und dann die Russen. Die hätten das Eis zerschossen, über das die Menschen zu fliehen versuchten.
NAPOLA?, denke ich, NAPOLA?
Ehe ich drauf komme, schiebt Herr G. die nächste Erinnerung nach. Unterwegs sei ihm ein Landser begegnet. Der brachte Gefangene nach Westen, Amis und Engländer. Die seien natürlich froh gewesen, daß es gegen Westen ging. Auch hatte der Landser die Taschen voller Patronen, wohingegen Herr G., der damals Fünfzehnjährige, ein Kommißbrot hatte. Sie hätten getauscht. Der Landser nahm das Brot und gab seine Munition. Man war sich wohl einig, die Gefangenen und ihr Bewacher, daß sie gegenseitig nichts zu befürchten hatten. Zum Ende hin nicht.
Herr G. sagt, daß er über seine Flucht einen Bericht geschrieben habe. Für eine Zeitung. Den wolle er mir gern einmal zeigen. Das Leben in Diktaturen hat es gewaltig in sich.
Aber ich muß dann gehen. Nachschauen, was die NAPOLA nach neuest-digitaler Erkenntnis war: Nationalpolitische Erziehungsanstalten; achtklassige Internatsschulen mit der Hochschulreife als Abschluß, »in den bei der Schulleitung und im Gemeinschaftsunterricht Besonderheiten der engl. Internatsschulen und der dt. Landschulheimbewegung Eingang gefunden hatten«; »eine den staatlichen Höheren Schulen entsprechende schulische Leistung war von Anfang an Voraussetzung für die Aufnahme. Die rassische Überprüfung erfolgte durch Führer des Rasse- und Siedlungs-Hauptamtes der SS. Ausschlaggebend für die Aufnahme als ›Jungmann‹ war der ›geistig-körperlich-charakterliche Gesamtzustand‹ der Aspiranten. Politische Zuverlässigkeit des Elternhauses war Voraussetzung; Kinder Alter Kämpfer wurden bevorzugt«; »auf den Dolchen der ›Jungmannen‹ stand die Devise ›Mehr sein als scheinen‹.« (Digitale Bibliothek, Band 25: Enzyklopädie des Nationalsozialismus)
Und jetzt: die Napola im Kino.
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