Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 31. Januar 2005, Heft 3

Wer beneidet Abu Mazen?

von Uri Avnery, Tel Aviv

Die palästinensischen Wahlen haben die Welt beeindruckt. Keiner kann das Beinahewunder, das geschehen ist, leugnen: der glatte Übergang von der Arafat-Ära zur Ära seines Nachfolgers und die fairen Wahlen, die unter strenger internationaler Beobachtung stattfanden. Und am wichtigsten: Die Demokratie wurde nicht von außen, nach Lust und Laune eines ausländischen Präsidenten übergestülpt – sie war von unten gewachsen. Und nicht unter normalen Umständen, sondern unter einer brutalen Okkupation.
Viel hängt nun von der Persönlichkeit Abu Mazens ab. Er beginnt seinen Weg im Schatten seines großen Vorgängers. Diejenigen, die einem Gründungsvater folgen, haben anfangs immer ein Problem wie die Erben Bismarcks oder Ben Gurions. Denken wir nur an den Mann, der Gamal Abd-el-Nasser, dem Gründer des modernen Ägyptens und dem Idol der ganzen arabischen Welt, folgte. Nachdem Nasser gestorben war, fragte ich einen politisch sehr erfahrenen Freund, was für ein Mensch dieser fast unbekannte Nachfolger wäre. Seine Antwort war kurz und scharf: »Sadat ist ein Einfaltspinsel.«
Er war mit dieser Ansicht nicht allein. Die Ägypter erzählten gerne einen Witz über den dunklen Fleck auf Sadats Stirne: »Bei jedem Treffen des Komitees der Freien Offiziere (die damals das Land regierten), pflegte Nasser seine Kollegen zu bitten, ihre Meinung zu äußern. Einer nach dem anderen stand auf und sprach. Am Ende wollte auch Sadat aufstehen und seine Meinung sagen. Nasser legte seinen Finger auf seine Stirne und drückte ihn sanft wieder auf seinen Stuhl und sagte: »Ach, Anwar, setz dich!« Doch nachdem er die Präsidentschaft angenommen hatte, versetzte Sadat die Welt in Staunen. Er sandte seine Armee über den Suezkanal und erlangte den ersten bedeutenden Sieg über die israelische Armee. Sein Besuch in Jerusalem war ein brillanter Akt – ohne Vorbild in der Geschichte. Niemals zuvor hatte das Oberhaupt eines Staates die Hauptstadt seines Feindes besucht, während sich beide noch im Kriegszustand befanden.
Natürlich ist Abu Mazen völlig anders als Sadat. Der ägyptische Führer hatte eine Begabung für Dramatik – wie Menachem Begin, er liebte große Gesten – wie Arafat. Abu Mazens Stil ist genau das Gegenteil. Außerdem hatte Sadat die absolute Kontrolle über ein großes Land. Er konnte es sich leisten, andere Ansichten zu ignorieren. Abu Mazen bringt aber eine wertvolle Mitgift in sein Amt mit: seine (guten) Beziehungen zum Präsidenten der Vereinigten Staaten.
George Bush ist ein simpler Bursche. Einige Leute liebt er, andere haßt er – und dies entscheidet die Politik der größten Weltmacht. Er liebt Ariel Sharon und ist ihm fast hörig. Da er niemals in einer Schlacht gewesen ist, bewundert er den schlachtenreichen israelischen General. Sharon personifiziert für ihn den amerikanischen Mythos – die Ausrottung der Indianer und die Eroberung des Landes. Arafat andererseits erinnerte ihn an einen Indianerhäuptling, dessen Sprache unverständlich und dessen Tricks für ihn teuflisch waren.
Als Bush Abu Mazen in Aqaba sah, eine respektabele Person im Anzug eines Geschäftsmannes – ohne Bart und Keffiye –, schätzte er ihn auf Anhieb. Deshalb gratulierte er ihm und lud ihn ins Weiße Haus ein. Die Frage ist nun, ob Abu Mazen seine Haltung schnell in politische Erfolge ummünzen kann. Sharon weiß, daß er sich äußerst vorsichtig verhalten muß, um Bush ja nicht zu verärgern. Solange Bush Abu Mazen in Ordnung findet, sollte Sharon nicht als derjenige angesehen werden, der ihn zugrunde richtet. Dies gibt Abu Mazen auch eine Chance.
Seine erste Aufgabe wäre es, mit den Organisationen, die Abkommen mit Israel ablehnen, einig zu werden. Kein Führer kann nationale Politik treiben, solange bewaffnete Fraktionen in entgegengesetzter Richtung schießen. Ben Gurion war vor der Staatsgründung in ähnlicher Situation, als er sich der Irgun und der Stern-Gruppe gegenüber sah, die unabhängig handelten. Einmal versuchte er, sie in die vereinigte Hebräische Aufstandsbewegung einzubinden; ein anderes Mal übergab er ihre Kämpfer der britischen Polizei.
Man sollte sich aber auch daran erinnern, daß Ben Gurion die entscheidende Auseinandersetzung erst nach der Gründung des Staates Israel begann: Er ließ das Irgun-Schiff Altalena versenken. Die beiden Organisationen wurden dann in die neue israelische Armee integriert. Jeder, der sagt, daß Abu Mazen bereit oder in der Lage sei, einen Bürgerkrieg gegen die Hamas zu beginnen, weiß nicht, wovon er spricht. Die palästinensische Öffentlichkeit würde es nicht dulden. Die meisten Palästinenser sind davon überzeugt, Sharon hätte ohne den palästinensischen bewaffneten Kampf nicht vom Rückzug aus dem Gazastreifen gesprochen. Sie sind zu einer Waffenruhe bereit, um Abu Mazen eine Chance zu geben. Aber sie wollen nicht die Liquidierung der kämpfenden Organisationen, weil es notwendig sein könnte, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen, wenn Abu Mazen die Amerikaner und die Israelis nicht davon überzeugen kann, die Palästinenser in die Lage zu versetzen, ihre nationalen Ziele zu verwirklichen. Bei den Auseinandersetzungen mit Hamas bevorzugt Abu Mazen – genau wie Arafat – eine Kombination von Verhandlungen, politischem Druck und der Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Er wird die bewaffneten Fraktionen davon überzeugen müssen, die nationale Strategie zu akzeptieren, die von der Führung angenommen wird. Dafür wird er die Hamas in das politische System – in die PLO und in das Parlament – einbinden müssen.
Falls Abu Mazen eine Waffenruhe erreicht, wird er sich seiner Hauptaufgabe widmen können: Israel und die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen und die Politik der Vereinigten Staaten zu ändern. Sadat gelang beides. Aber Sadat hatte es mit Menachem Begin zu tun, der bereit war, das ägyptische Territorium aufzugeben, um den Kampf gegen die Palästinenser fortzuführen und die Schaffung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Auch Sharon ist gegen die Schaffung eines palästinensischen Staates auf der ganzen Westbank und im Gazastreifen mit seiner Hauptstadt Ost-Jerusalem. Aber Abu Mazen kann und will – wie Arafat – nicht mit weniger als diesem jetzt geheiligten Ziel zufrieden sein.
Abu Mazen wurde in seinem Amt vereidigt. Viele hoffen, daß er Erfolg haben wird – nur wenige beneiden ihn.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; von der Redaktion gekürzt