Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 17. Januar 2005, Heft 2

Reisetagebuch II

von André Brie

Jerusalem, 2. November, 19 Uhr: Für mich ist es der letzte Termin. Ich werde frühmorgens kurz nach fünf von Tel Aviv zurückfliegen. Um zwei Uhr nachts muß ich das Hotel verlassen. Die Organisation, die wir für diesen Abend in unser Hotel eingeladen haben, heißt The Parents Circle – the Families Forum (Eltern-Zirkel – Familien-Forum). Wir werden Menschen treffen, die Angehörige durch den Terror der israelischen Armee oder der palästinensischen Extremisten verloren haben und dennoch nicht Vergeltung, sondern Versöhnung wollen.
Als erster heute Abend redet Adel Misk, ein Palästinenser. Ach, hätte ich es doch einfach auf Tonband oder mit einer Kamera aufgenommen. Ich aber habe nur mitschreiben können. »Wir alle haben Familienangehörige verloren. Es war ein langer Weg vom Haß zum Engagement für Versöhnung. Ich bin Arzt. Mein Vater ist in meinen Armen gestorben. Nach drei Tagen mit vielen Trauerbesuchen war ich allein. Zuerst wollte ich niemals vergeben. Ich hatte zuvor viele israelische Freunde. Ich habe der Polizei geholfen, den Mörder meines Vaters zu finden. Er ist Siedler. Er bekam nur zwei Jahre Gefängnis. Kinder hätten Steine geworfen, er habe sich bedroht gefühlt und geschossen. Ein vierzehnjähriger Steinewerfer ist auch ermittelt und verhaftet worden. Er ist zu sechs Monaten verurteilt worden. Später aber traf ich einen Israeli, der seinen Sohn durch einen Angriff der Hisbollah verloren hatte und sich dennoch für eine Aussöhnung mit den Palästinensern einsetzte. Wir sprachen miteinander, und ich merkte, daß er sich in der gleichen Situation wie ich befand, aber eine ganz andere Schlußfolgerung gezogen hatte. Wir haben uns dann entschieden, gemeinsam für einen Frieden zwischen unseren Völkern zu arbeiten und andere betroffene Familien zu finden. Das half und hilft uns persönlich, unser Schicksal zu bewältigen. Das ist das erste. Das zweite: Wir wollen, daß so etwas anderen erspart bleibt. Wir werden keinen Frieden haben, so lange es die Okkupation gibt.«
Der Mann, den Adel Misk getroffen hatte, sitzt neben ihm, der grauhaarige, vielleicht 60jährige Chradi. Seine Geschichte: »Ich komme aus einer klassischen israelischen Familie von Zionisten, Sozialisten, Gewerkschaftern. Ich hatte mich immer als einen Menschen gesehen, der für Frieden kämpft, meine ganze Familie. Mein jüngstes Kind, mein Sohn Noah, meinte also auch, daß er in einer demokratischen Armee und für Frieden, Sicherheit Dienst tut. Er ging auch befehlsgemäß in den Südlibanon, obwohl wir alle, er auch, die Besetzung falsch fanden. Seine Mutter war in einer Fraueninitiative gegen die Besetzung, Lebanon in Peace. Fünf Tage vor seiner Entlassung wurde er durch eine Bombe getötet. An seiner Uniform trug er das Zeichen von Lebanon in Peace. Es war der Abend des Holocaustgedenktages, als es an der Tür klopfte. Das Bild kennt jeder in Israel: zwei Militärs, ein Zivilist. Niemand mußte mir etwas sagen. Ich schrie und weinte. Wozu sollten wir noch leben?! Es war unser Jüngster, unser Fröhlichster. Wir mußten nur wegen unserer anderen Kinder noch leben. Zwei Tage später bekamen wir seine Sachen und seine Uniform mit dem Abzeichen gegen die Besetzung des Südlibanons. Ein Offizier sagte uns, daß er darauf bestanden hatte, es zu tragen. Für uns war das wie ein Zeichen. Wir haben den entsetzlichsten Preis bezahlt. Wir haben das Recht, Ihnen und allen zu sagen, daß man ein Zionist sein kann und ein Humanist zugleich. Wenn du kein Humanist bist, bist du ein Betrüger, kein Zionist. Wir haben eine Telefon-Hotline eingerichtet und finanziert, Hallo Schalom, Hallo Salam, eine halbe Million Gespräche hatten wir für Kontakte zwischen Palästinensern und Israelis.«
Der Dritte ist Chadit Aberman aus Hebron (ich weiß nicht, ob ich seinen Namen richtig gehört, schon gar nicht, ob ich ihn richtig geschrieben habe): »Ich möchte einfach, daß Menschen und ihre Kinder leben können. Ich war aktiv in der ersten Intifada und verlor deshalb meine Arbeit als Lehrer. Ich fand dann etwas anderes und habe meine Familie finanziell unterstützt, bis am 16. November 2000 mein Bruder im Dorf Bet Omar von israelischen Soldaten erschossen wurde. Mit einem aufgesetzten Kopfschuß. Mein zweiter, vierzehnjähriger Bruder wurde kurz darauf vor dem Haus unserer Mutter durch einen Schuß aus großer Entfernung getötet. Er hatte dort beim Teetrinken gesessen. Ich hatte jüdische Freunde. Ich wollte keinen Juden mehr sehen, kein Hebräisch mehr hören. Als man mir sagte, eine israelische Friedensgruppe wolle mit mir sprechen, wehrte ich ab. Aber ich ließ mich dann doch überreden. Beim ersten Mal dachte ich, die sind närrisch. Doch es ist arabischer Brauch, einen Gast zu achten, also trafen wir uns noch einmal. 45 Israelis und fünfzig Palästinenser aus meiner Gegend trafen sich bei mir. Ich dachte aber die ganze Zeit: Die sind schuld, die Israelis sind schuld. Zwei Mütter, eine Jüdin und eine Frau aus meinem Dorf, haben erzählt, wie sie ihre Kinder verloren haben. Sie weinten beide. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, nur die Zukunft.«
Omar ist Arzt, Palästinenser, er hat in Rumänien studiert. Sein Vater und sein Bruder wurden getötet, er selbst war während der ersten Intifada sechs Monate in »administrativer Gefangenschaft«, ohne jede Anklage, ohne Urteil, später noch einmal vier Monate und erneut sechs Monate: »Sie haben mit mir gemacht, was sie wollten. Nie habe ich eine Anklage erhalten. Ich wollte das Land verlassen. Ich habe es auch verlassen und den zweiten und dritten Grad meiner ärztlichen Ausbildung gemacht. Aber ich bin zurückgekehrt. Wir haben ja nur eine Möglichkeit: Frieden. Und den bekommen wir nur miteinander. Oder gar nicht.«
Zwei Stunden haben wir nur zugehört. Wir sind nicht in der Lage nachzufragen. Evans, meine walisische Kollegin, hat verweinte Augen.

3. November, 6 Uhr morgens: Ich fliege zurück. Es scheint, daß Arafat im Sterben liegt. Was wird das für den Nahen Osten bedeuten? Die BILD-Zeitung fordert in ihrer heutigen Ausgabe: Die Palästinenser müßten begreifen, daß sie Frieden mit Israel schließen müssen. »Die« Palästinenser, widerlich, dieser Rassismus, diese Pauschalisierung eines ganzen Volkes.
Es ist Zufall, daß ich mir Arthur Millers Brennpunkt als Reiselektüre mitgenommen habe. Aber es hätte kaum etwas passenderes sein können als diese Geschichte eines biederen amerikanischen Christen, der selbst antisemitisch denkt und empfindet, jedoch im Sommer 1943 oder 1944 Opfer des umsichgreifenden aggressiven Antisemitismus in der damaligen amerikanischen Gesellschaft wird. Durch einen banalen Vorgang: Seine Nachbarn, Mitglieder der Christlichen Front, halten ihn wegen seines durch eine Brille veränderten Aussehens für einen Juden. Arthur Miller erzählt auch die Geschichte eines Pogroms und des Schicksals des Juden Itzig aus dem alten Galizien, die ein Jude seinem Sohn immer wieder berichtet hatte. Der steht eines viel späteren Tages, eben in diesem Kriegssommer, am Grab des Vaters, »doch er sah nicht den Grabstein, sondern das Gesicht seines Vaters, das vor seinem geistigen Auge schwebte. Und in seiner Erinnerung formte sich die alte Frage, die er immer gefragt hatte, wenn sein Vater mit seiner Erzählung zu Ende war: ›Und was ist der Sinn?‹ ›Was der Sinn ist?‹ antwortete dann der Vater. ›Es gibt da keinen Sinn.‹ Was konnte dieser Itzig tun? Er mußte tun, was man von ihm erwartete, und das mußte so enden, wie er wußte, daß es enden würde, und es gab keine andere Möglichkeit. Das ist der Sinn.«
Millers Geschichte aber endet anders als diese, der Nichtjude Newmann wehrt sich gegen die Schikanen, gemeinsam mit seinem jüdischen Nachbarn.

Den vollständigen Text des Reisetagebuches unter: www.andrebrie.de