von André Brie
Abou Dis, 30. Oktober, halb zehn.
Nun ist die Mauer fertig. Was ich als Provisorium in Erinnerung und eben auf der Landkarte gesehen hatte, steht da: neun Meter hoch, grau. Terry Boullata, eine palästinensische Lehrerin, begrüßt uns: »Welcome to our Ghetto.« Ich würde diesen Ausdruck vermeiden, doch diese Mauer hat tatsächlich einen anderen Zweck, als Israel vor den entsetzlichen Selbstmordanschlägen zu schützen und Israelis und Palästinenser zu »separieren«. Wenn sie wirklich Sicherheit für Israel bringen könnte, ich würde sie akzeptieren. Aber dann müßte die Mauer an der »green line« verlaufen, der Grenze von 1967. Statt dessen trennt sie nicht Israelis und Palästinenser, sondern die Palästinenser voneinander.
Terry Boullatas Haus liegt jenseits der Mauer, in Ostjerusalem. Noch gibt es eine schmale Stelle, an der man über einen Erdwall, Müll und Betonschutt zu ihm gelangen kann. Terrys Mann jedoch, der keine Genehmigung für Ostjerusalem hat, darf legal nicht im eigenen Haus übernachten. Ein kleines Hotel gleich gegenüber und das Land, das seit 700 Jahren seiner Familie gehört hatte, ist nach Jerusalem »eingemeindet« und also enteignet worden. In ihm ist jetzt ein Polizeistützpunkt.
Die Beschlagnahme palästinensischen Eigentums erfolgt unbürokratisch. Die Besitzer werden weder persönlich noch schriftlich informiert. Die Israelis hängen eine Bekanntmachung an einen Straßenbaum. Wer die zufällig liest und außerdem die militärtopographischen Karten zu lesen versteht, hat vielleicht noch eine Chance, die juristische Einspruchsfrist zu nutzen. Alle anderen sind nach einer Woche bar jeder rechtlichen Möglichkeit. Terrys Mann meint: »Für sie existieren wir nicht als Menschen und nicht als Rechtssubjekte.« Zweihundert Meter entfernt wird eine neue jüdische Siedlung errichtet. Illegale jüdische Siedler haben jeden Tag Wasser, die Palästinenser im Sommer nur an zwei oder drei Tagen in der Woche.
Abou Dis war früher ein Vorort Jerusalems. Jetzt nicht mehr: Durch Gesetze und die Mauer sind beide Städte voneinander getrennt. Bis 1967 konnten die Einwohner von Abou Dis Schulen, Krankenhäuser und viele andere Einrichtungen in Ostjerusalem nutzen. Nun ist es für viele verbotenes Gebiet, oder sie haben weder Zeit noch Geld, um die stundenlange Fahrt nach Ostjerusalem zu schaffen.
Mittags fahren wir zum Qalandiya-Checkpoint nördlich von Jerusalem. Taxis und andere Autos aus Ramallah bringen Menschen bis zum Checkpoint, den sie zu Fuß passieren müssen. Eine sehr alte, hinfällige Frau wird von einem Mann gestützt, vielleicht ihrem Sohn. Es sind wohl zwei- oder dreihundert Meter durch ein Gewirr von Stacheldrahtverhauen, Sperren, Bunkern, Kontrollen und einigen Dutzend sehr jungen Soldaten. Sie wirken sehr selbstbewußt, selbstsicher und überlegen. Befragt, ob sie sich nicht vorstellen können, wie demütigend das alles sei für die Palästinenser im eigenen Land, sagen sie: Nein, wir halten unsere Vorschriften ein.
Vier junge Palästinenser, drei etwa achtzehn Jahre alte Männer und ein Mädchen, erzählen uns, daß ihnen ihre gültigen Dokumente vor zwanzig Minuten abgenommen worden seien. Sie wüßten nicht, warum und nicht wie lange sie warten müßten. Der Soldat, den wir um Auskunft bitten, antwortet wieder nur: Wir haben unsere Vorschriften. Wer den Checkpoint passiert hat, kann auf der anderen Seite wieder ein Taxi oder einen Kleinbus nehmen. Früher brauchte man eine gute Viertelstunde von Ramallah oder Bethlehem nach Jerusalem, für Palästinenser ist es inzwischen fast eine Tagesreise.
18 Uhr: Treffen mit Wehrdienstverweigerern. Haggai Matar und Shimri Zamaret sind beide zwanzig Jahre alt. Sie waren zwei Jahre im Gefängnis, weil sie den Wehrdienst verweigerten. Vor Gericht hat sich Haggai auf die Meinungsfreiheit und darauf berufen, daß die Armee nicht Israel verteidige, sondern ein anderes Volk unterdrücke.
Haggai und Shimri erzählen ohne Bitterkeit. Sie haben offene, sehr junge Gesichter. »Was ich vor zwei Jahren vor dem Kriegsgericht erklärt habe«, sagt Haggai, »ist als Buch erschienen. Ich nehme kein Wort davon zurück, aber heute ist alles noch viel schlimmer – das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen, das Alltagsleben der Palästinenser, ihre wirtschaftliche Situation, ihre Unterdrückung und Demütigung, auch das Leben in Israel. Ich glaube nicht an die USA, nicht daran, daß Bush Israel ernsthaft zur Beendigung der Besatzungspolitik auffordern wird.«
Yonathan Shapra ist etwa dreißig Jahre alt, kräftig, durchtrainiert, braungebrannt, seine Hände sind groß und schlank, der markante Kopf kurz rasiert, die blauen Augen blicken sehr aufmerksam. Er ist Hauptmann, seit mehr als zehn Jahren bei der Armee, Hubschrauberpilot. »Ich habe viel länger gebraucht, um aus meiner Erziehung auszubrechen, Konsequenzen aus dem zu ziehen, was ich mit der Armee in den besetzten Gebieten erlebt habe. Diese jungen Verweigerer sind die besten Soldaten, die Israel hat. Ich habe erst spät erkannt, daß es nicht um die Verteidigung meines Landes, sondern um eine Okkupation und um die Interessen der illegalen jüdischen Siedler geht.« 27 Piloten haben den Dienst in den besetzten Gebieten verweigert. Yonathan erzählt, daß viele Raketenangriffe inzwischen von unbemannten Flugzeugen aus gestartet würden. Offiziere lösten den Angriff an einem Computer in fernen Kommandoräumen aus. Ein Gefühl, daß sie in diesem Augenblick töten, haben sie nicht. »Die israelische Gesellschaft nimmt nicht zur Kenntnis, was wir in den besetzten Gebieten tun.«
Die Propaganda, fährt er fort, stelle Israel als Opfer dar, »aber wir sind Täter und Opfer zugleich. Wir haben eine Ideologie wie das alte Sparta. Und die Nation kennt die Tatsachen der Okkupation nicht oder ignoriert sie.« Aber die Zahl »grauer« Verweigerer nehme zu, die sich mit Attesten und anderen Mitteln, manchmal auch mit stillschweigendem Verständnis von Vorgesetzten, dem Dienst in den Westbanks und im Gazastreifen entziehen. Einer seiner Freunde, ebenfalls Kommandant eines Apache-Hubschraubers, habe zwei Unschuldige mit einer Rakete getötet. Er habe von seinem Kommandeur die Zusage verlangt und erhalten, nie wieder in eine solche Situation kommen zu können.
Ich frage Yonathan, wie seine Familie auf seine Verweigerung reagiere. Der Vater, der in der Rüstungsindustrie arbeitet, antwortet er, habe kein Verständnis für ihn, aber die Mutter hat sich inzwischen einer jüdischen Gruppe angeschlossen, die an den Checkpoints das Verhalten der Soldaten kontrolliert.
Um viertel neun treffen wir uns noch mit europäischen Diplomaten. Einschätzungen, die mich etwas hoffnungsvoller machen könnten, sind auch da nicht zu hören. Aber wenn ich an Yonathan und seine Mutter denke, an Haggai, Shimri, Ofem, Terry – weiß ich von einer menschlichen Wärme und Verantwortung, die vom beiderseitigen Terror und der erbarmungslosen Besatzungspolitik nicht zerstört werden können.
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