Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 3. Januar 2005, Heft 1

Referendum gescheitert

von Uli Brockmeyer, Budapest

Die national-konservative Opposition in Ungarn hat am 5. Dezember eine Kraftprobe für die Wahlen im Frühjahr 2006 verloren. Trotz einer massiven Kampagne gelang es ihr nicht, eine ausreichend hohe Zahl an Wählern für die Volksabstimmung über die Reform des Gesundheitswesens und über die Staatsbürgerschaft für im Ausland lebende Ungarn zu bewegen. Es wurde lediglich eine Wahlbeteiligung von 37,48 Prozent erreicht. Da keine der beiden Fragen eine Zustimmung von 25 Prozent der Wahlberechtigten erhielt, gilt das Referendum als gescheitert.
Insgesamt 8046742 Ungarn waren aufgefordert, über zwei stark umstrittene Fragen abzustimmen. Es ging zunächst um ein Gesetz aus dem vergangenen Jahr, mit dem die regierenden Sozialisten und Liberalen die vor über zehn Jahren begonnene Privatisierung des Gesundheitswesens fortsetzen wollen. Im Klartext geht es um den Verkauf von Krankenhäusern und Kliniken, die Eigentum des Staates oder der Gemeinden sind. Viele Ungarn fürchten zu Recht, daß dadurch eine Behandlung von Patienten mit unteren Einkommen bald nicht mehr bezahlbar sein würde. Bereits seit Jahren hat sich eine Zweiklassen-Gesundheitsfürsorge durchgesetzt. Es gibt hervorragende Privatkliniken, in denen sich die Oberschicht und viele zahlungskräftige Ausländer mit den modernsten Mitteln der Medizin behandeln lassen können. Die öffentlichen Einrichtungen hingegen leiden chronischen Mangel. Ärzte und medizinisches Personal werden unterbezahlt, oft fehlen die Mittel für notwendige medizinische Ausstattungen.
Angesichts dessen hatte die kommunistische Arbeiterpartei rund 300000 Unterschriften gesammelt, um mit einem Referendum das Parlament zu zwingen, das umstrittene Privatisierungsgesetz zurückzunehmen. Hier steht die Frage, wer in Zukunft die Zuwendungen aus dem Staatshaushalt bekommen wird, sagte Gyula Thürmer, der Vorsitzende der Arbeiterpartei in einem Gespräch. »Wir befürchten die Einführung eines gebührenpflichtigen Gesundheitswesens. Wir können uns nicht vorstellen, daß private Unternehmer die Kranken nur wegen ihrer schönen blauen Augen behandeln werden. Sie wollen natürlich Profit machen. Ungarn würde dann nicht nur in der Industrie und im Bankwesen vom ausländischen Kapital abhängen. Das wollen wir verhindern.«
Die Ablehnung der Privatisierung der Krankenhäuser war von den Interessenvereinigungen der Ärzte und des medizinischen Personals sowie von verschiedenen Zivilorganisationen unterstützt worden. Auch die konservative Oppositionspartei Fidesz hatte ihre Wähler zur Unterschrift aufgefordert, da sie sich hier eine Kraftprobe mit der amtierenden Regierung erhoffte. Allerdings ging sie nicht so weit, sich an der Unterschriftensammlung der Kommunisten zu beteiligen.
Hinzu kam die Forderung des konservativ-nationalistischen Weltbundes der Ungarn, den Angehörigen der im Ausland lebenden ungarischen Minderheiten die ungarische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Dabei wurde unverhohlen von der Wiederherstellung »historischer Gerechtigkeit« gesprochen. Objekt der Begierde sind vor allem ethnische Ungarn, die infolge der Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Territorium der Nachbarstaaten leben. Im Zuge des Vertrages von Trianon mußte Ungarn als einer der Verliererstaaten des Krieges rund zwei Drittel seines Territoriums an die Nachbarländer abtreten. Nach offiziellen Angaben leben heute 1,34 Millionen Ungarn in Rumänien, 520000 in der Slowakei, 295000 in Serbien, 156000 in der Ukraine sowie rund 50000 in Österreich, Kroatien und Slowenien. Alle ungarischen Regierungen seit dem Systemwechsel vor fünfzehn Jahren sprachen bisher von einer besonderen Obhutspflicht für diese Leute, und aus propagandistischen Erwägungen wird dabei die Zahl der Ungarn im Ausland zumeist auf fünf Millionen beziffert. Berühmt wurde ein Ausspruch des ersten Ministerpräsidenten nach der Wende, József Antal, der davon gesprochen hatte, »der Ministerpräsident nicht nur für 10 Millionen, sondern für 15 Millionen Ungarn« sein zu wollen.
Ähnliche Aussagen sind von allen seinen Nachfolgern bekanntgeworden, wobei die Sozialdemokraten die abgeschwächte Form der »Verantwortung für fünfzehn Millionen« ins Spiel brachten. Im offiziellen Sprachgebrauch ist stets von den »Ungarn außerhalb der Grenzen« die Rede. Dieses Trauma der Spaltung der Nation hat in den vergangenen 85 Jahren zu verhängnisvollen Verirrungen der ungarischen Politik geführt, und es war einer der Gründe für das Bündnis zwischen Horthy-Ungarn und Hitler-Deutschland. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges glaubte man, das Problem der Minderheiten durch den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in faktisch allen betreffenden Ländern ad acta legen zu können. Allerdings zeigte sich nach dem Systemwechsel vor fünfzehn Jahren, daß die Nationalitätenkonflikte weiterhin existieren. Verschiedene Ideen zur Schaffung autonomer Gebiete oder zur Einführung von Sonderrechten scheiterten bisher allesamt. Nun glaubten vor allem die nationalistischen und konservativen Kreise, in der Verleihung der Staatsbürgerschaft eine Lösung gefunden zu haben. Die 2002 abgewählte Fidesz-Regierung hatte mit einem sogenannten Statusgesetz versucht, den Auslandsungarn besondere Rechte im »Mutterland« zukommen zu lassen, wodurch sie vor allem in Rumänien und in der Slowakei auf starken Widerspruch gestoßen war. Nicht unwichtig ist dabei der Aspekt, daß die Konservativen sich im Falle der Erteilung des Wahlrechts mindestens eine Million zusätzlicher Stimmen erhofften.
Die sozialistisch-liberale Regierung hatte dazu aufgefordert, beide Fragen mit Nein zu beantworten. Fast alle politischen Beobachter hatten es als Fehler der Gyurcsány-Regierung angesehen, daß sie nicht versuchte, einen Kompromiß bei der Staatsbürgerschaftsfrage zu erzielen. Es wurde erwartet, daß eine Mehrheit der Wähler der faktischen Einbürgerung der Auslandsungarn zustimmen werde. Dementsprechend präsent waren die Konservativen mit ihrer Kampagne, die keine Litfaßsäule und keinen Briefkasten ausließ. Auf Plakaten des Weltbundes war unmißverständlich Ungarn in seinen Grenzen von vor 1919 zu sehen.
Dennoch gelang es nicht, die rund drei Millionen Wähler, auf die der Fidesz normalerweise zählen kann, zu mobilisieren. Für die Rücknahme der Gesundheitsreform stimmten immerhin 65 Prozent, es fehlten lediglich 90450 Stimmen für ein gültiges Votum. Gyula Thürmer, der Vorsitzende der Arbeiterpartei, ist überzeugt, daß Regierung und Parlament dennoch zum Handeln gezwungen sind.
Mit 51 Prozent bekam die Forderung nach Staatsbürgerschaft für Auslandsungarn eine überraschend geringe Zustimmung. Die Kraftprobe mit der Regierung gilt damit als gescheitert. Unmittelbar nach der Abstimmung wurden in Kreisen der Auslandsungarn bereits wieder die bekannten Meinungsverschiedenheiten deutlich. Während die Vertreter aus Rumänien und der Slowakei auf ihren Forderungen beharren und Budapest dennoch in Zugzwang bringen wollen, forderte der Vertreter aus Serbien bereits Konsequenzen in bezug auf die Führung des Weltbundes, die mit ihrem Verhalten großen Schaden angerichtet habe.
Wieviel Schaden allein dadurch angerichtet wurde, daß diese Frage überhaupt aufgeworfen und zur Volksabstimmung freigegeben wurde, läßt sich überhaupt nicht ermessen. Das EU-Land Ungarn hat sich damit gewiß keinen Gefallen getan.

Uli Brockmeyer wechselt von Budapest nach Luxemburg. Viel Glück!