Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 17. Januar 2005, Heft 2

Nach der Wahl

von M. R. Richter, Kiew

Nunmehr ist es amtlich – Viktor Juschtschenko heißt der zukünftige Hausherr im Kiewer Marienpalast, der Residenz des ukrainischen Präsidenten. Die Wiederholung der Präsidentenstichwahl fand das Wohlwollen der zu mehreren Tausend angereisten nordamerikanischen und europäischen Wahlbeobachter, die Menge auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz war ebenfalls zufrieden. Die »orangene Revolution« hat gesiegt. Der Verlierer Janukowitsch wird das Wahlergebnis noch vor dem Obersten Gericht anfechten, Erfolg wird ihm damit nicht beschieden sein. Zu eindeutig ist die internationale Interessenlage, ist in der Ukraine das Übergewicht der Achse Washington-Warschau gegenüber Moskau.
Die ersten Schritte des neuen Präsidenten dürften noch relativ sicher vorhersehbar sein: Er wird eine neue Regierung einsetzen, der Premier wird den der Wahl vorangegangenen Absprachen folgend Julia Timoschenko heißen. Dann müssen die wichtigsten der Führer des Wahlkampfes mit Posten und Pöstchen belohnt werden. Im Endeffekt wird die postsowjetische Elite von allen Chefsesseln verdrängt sein, und es wird sich eine neue Führung sowohl in Kiew wie auch in den Regionen etabliert haben. Probleme sind lediglich in der Ostukraine zu erwarten – und an dieser Stelle muß Juschtschenko in den Spagat. Nach der aus Sicht der Ost- und Südukraine verlorenen Wahl werden sich dort die Autonomiebestrebungen ausweiten. Große Teile der dortigen Bevölkerung stehen den »Bendera-Ukrainern« traditionell ablehnend gegenüber. Dazu kommt, daß diese Landesteile wesentlich länger mit dem russischen Staat liiert waren als mit dem ukrainischen. Gerechterweise sollte hinzugefügt werden, daß es einen ukrainischen Staat vor 1991 nur über knapp zwei Jahre im Rahmen des nachrevolutionären Bürgerkriegs gab, und daß dieser lediglich im Bewußtsein der kritischen Intelligenz Spuren hinterließ. Dreizehn Jahre sind nicht ausreichend, um ein neues Staatsvolk, eine Nation zu bilden, dazu reichen nicht einmal vierzig Jahre. Allerdings sind es die östlichen und südlichen Landesteile der Ukraine, welche den Löwenanteil des Bruttosozialprodukts erzeugen. Die Statistik weist ein Verhältnis 80:20 Ost zu West in der Produktionsziffern aus. Der traditionell bäuerlich geprägte Westen dürfte ohne den ukrainischen Osten kaum überlebensfähig sein.
Und hier beginnt Juschtschenkos Dilemma: Donezk und Charkow, die Krim und Odessa zu verprellen, heißt die Einheit des Staates aufs Spiel zu setzen; andererseits wollen seine Mitkämpfer gerade dort an die saftigen Weiden und dort eine Umverteilung des früheren Staatseigentums erreichen. Zu erwarten ist, daß Juschtschenko wie bereits in den beiden Jahren als Premierminister auf Kürzung staatlicher Subventionen, auf die Schließung unrentabler Bergwerke sowie auf die Stärkung kleiner und mittelständischer Unternehmen setzen wird. Er wird – mindestens zeitweise – die Steuerschraube lockern. Wer seinen Versprechungen – höhere Mindestlöhne und Renten – geglaubt hat, wird bald enttäuscht werden. Als gelernter Banker wird er die monitären Hebel in Bewegung setzen, um die Umverteilung des Eigentums von unten nach oben und von Ost nach West über ein Anheizen der Inflation in Gang zu setzen. Dazu wird mit hoher Wahrscheinlichkeit der Verkauf lukrativer Reste des Staatseigentums, zum Beispiel des Energiesektors, an ausländische »Investoren« und die internationale Kreditaufnahme neues Geld in die Kassen spülen. Weniger Erfolg dürfte ihm beschieden sein bei der Einbindung in die Europäische Union, obwohl ihm dabei ein kräftiger Rückenwind aus Warschau die Segel bläht. Der beabsichtigte Anschluß an die NATO hingegen bedeutet den Todesstoß für den ukrainischen militärisch-idustriellen Komplex, gegenwärtig noch eine der Säulen der ukrainischen Industrie.
All diese Aktionen werden allerdings kaum die Erwartungen der Menschen vom Kreschtschatik und vom Unabhängigkeitsplatz befriedigen. Ihr Unmut könnte sich mit dem aus dem ukrainischen Osten verbinden. Und auch Moskau wird nicht untätig bleiben, wenn ihm sein Hinterhof mit seiner industriellen Basis abhanden kommt.