von Thomas Rüger
Für einen jungen Autofahrer ist es heutzutage unvorstellbar, daß es Autofahrergenerationen gab, die die Fenster noch selbst mit der Hand herunterkurbeln mußten, daß sich Autos nicht zentral verriegeln ließen und daß es keine automatische Anzeige gab, wenn man die Autofahrt nicht angegurtet startete.
Doch der Fortschritt von heute steht im Technikmuseum von morgen (Abteilung Historische Kabinettstückchen). Die Früchte des Fortschritts sind, kaum gereift, sehr schnell zu Fallobst mutiert. Dabei ist es wichtig, daß diese Früchte, selbst wenn sie rechtzeitig geerntet werden, niemals satt machen dürfen; sie müssen permanente Appetitanreger sein und das Verlangen auf Immer-noch-mehr schaffen.
Die Werbeindustrie wirft hierzu die passenden rhetorischen Nebelkerzen und bewirkt eine kulturelle Wertsteigerung banalster Alltagsgegenstände. So sorgt ein Rasierer »für das Beste im Mann« … oder handelt es sich dabei um einen Leuchtstab?
Wenn sich die Nation der SiMSer und Mailer nichts mehr zu sagen hat beziehungsweise nichts mehr zu sagen weiß, dann soll sie zumindest Fotoaufnahmen weltweit versenden können. Menschliches Leben im 21. Jahrhundert beginnt mit der Aufnahme der Geburt per Digitalkamera; als Grabbeigaben stehen derzeit Webkameras und MP3-Player hoch im Kurs.
Prähistorisch muten unterdessen die Zeiten an, als die Vorweihnachtszeit am 1. Advent begann und das Obst nur saisonabhängig gekauft werden konnte. Jesus gilt als der Erfinder des Adventskalenders, und der Osterhase hüpft alljährlich als Letzter aus dem Sack des Nikolaus. Konsumverweigerer stellen im besten Falle eine historische Randnotiz dar, ihre moralinsauren Appelle sind im wahrsten Sinne des Wortes fruchtlos. Die Früchte des Fortschrittes benötigen keinen Baum der Erkenntnis. Sie wachsen, ja wuchern global.
Unser junger Autofahrer entdeckt morgen voller Erstaunen in der Auslage eines Antiquariates einen Straßenatlas – ein umständliches Hilfsmittel aus der Prä-GPS-Ära.
Doch der Fortschritt wird gnadenlos weitergehen.
Übermorgen wird die Menschheit zweigeteilt sein – die einen siechen im Dschungelcamp, die anderen werden als Fruchtzwerge im Naturkundemuseum ausgestellt.
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