Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 3. Januar 2005, Heft 1

Die Josif-Legende

von Wladimir Wolynski, Moskau

Würde heute der Georgier Josif Dshugaschwili, nach derzeitiger offizieller Behördensprache »eine Person kaukasischer Nationalität« und in der Alltagssprache vieler Großrussen einfach ein »Schwarzer« (»tschorno-masy«), durch die Straßen gehen, liefe er Gefahr, angepöbelt, angehalten, festgehalten oder gar ausgewiesen zu werden. Auch in seinen eigenen vier Wänden wäre er nicht sicher. Zu jeder Tages- und vor allem Nachtzeit könnten ihn die Miliz oder Sonderkommandos behelligen.
Der Name Dshugaschwili – »Stalin« – hatte auf der Liste der Mitglieder der ersten Sowjetregierung vom 25. Oktober 1917 gestanden, Dienstbezeichnung: Volkskommissar für Nationalitätenfragen. Er war damals der einzige Nichtrusse beziehungsweise Angehöriger eines nichtrussifizierten Volkes im ZK der bolschewistischen Fraktion der damaligen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR), der sich in jenen Tagen in Petrograd aufhielt.
Der Zerfall des großrussischen Imperiums hatte unmittelbar nach der Februarrevolution von 1917 begonnen. Bereits 1916 waren Aufstände der muslimisch geprägten Turkvölker in Mittelasien gegen die zaristische Fremdherrschaft aufgeflammt. Im Juni 1917 war eine Regierung der Ukraine gebildet worden, die das Land weit über die historischen Grenzen »Kleinrußlands« hinaus ausdehnte, mit Deutschland über einen Waffenstillstand verhandelte und auch die Hand auf das Industrierevier Donbaß legte. Belorußland wurde ein Protektorat Deutschlands. 1918 hatte Polen seine Unabhängigkeit erklärt, zuvor bereits Finnland. Desgleichen Georgien.
In der Ukraine, Georgien und Armenien übernahmen Anfang der zwanziger Jahre ansässige Bolschewiki die Macht. Formell blieb jede dieser Republiken unabhängig, erklärte sich zu einer »Sowjetrepublik«, und war durch Verträge mit der Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik Rußland (RSFSR) verbunden. Das letzte Wort im Kaukasus hatte zu dieser Zeit der Georgier Sergo Ordshonikidse, der die Direktiven Stalins verwirklichte – zeitweise gemeinsam mit dem Polen Feliks Dzierzynski.
Mitte 1922 fiel in Moskau die Entscheidung zugunsten der Wiederherstellung der politischen Einheit des Landes auf der Grundlage einer gemeinsamen Verfassung. Am 11. August wurde eine Kommission des Orgbüros des ZK der Allrussischen Kommunistischen Partei (B) gebildet. Sie hatte den Entwurf dieser Verfassung auszuarbeiten. Da Lenin nach seinem ersten Schlaganfall im Mai 1922 nur bedingt arbeitsfähig war, leitete Stalin die Kommission, obwohl zu diesem Zeitpunkt Leo Trotzki, Lew Kamenew und Grigori Sinowjew über größeres politisches Gewicht verfügten. Sie jedoch hielten Kommissionsarbeiten für »Bürokratentum«, das ihrer nicht würdig war.
Stalins Entwurf sah den Anschluß der Ukraine, Belorußlands, Georgiens, Armeniens und weiterer Republiken an die RSFSR vor, zu der bereits die Tatarische und die Baschkirische Republik gehörten. Neue Funktionsorgane waren nicht vorgesehen. Der Rat der Volkskommissare der Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik erweiterte einfach seine Kompetenzen auf die »Beitrittsgebiete«. Die Zuständigkeiten für Militär, Außenpolitik, Transport- und Nachrichtenwesen blieben komplett bei den bestehenden Moskauer Volkskommissariaten. Ebensolche für Finanzen, Versorgung, Arbeit und Volkswirtschaft in den Republiken hatten die Direktiven der RSFSR auszuführen. Das betraf auch die Tscheka. Eine gewisse Eigenständigkeit wurde Bildungswesen, Justiz, Landwirtschaft, Gesundheitswesen und Sozialfürsorge zugestanden. Damit unterschied sich Stalins Entwurf grundlegend von all seinen früheren und bis Mitte 1922 auch öffentlich vertretenen Ansichten.
Auf dem Instanzenweg kam Stalins Entwurf auch zu Lenin. Es kam zu einem Konflikt zwischen beiden. Lenin schwebte ein offener Bund gleichberechtigter Republiken – damals noch im Zeichen der Weltrevolution – Europas und Asiens vor. Die größte Gefahr für die Revolution in Rußland wie auch für die Weltrevolution sah Lenin im großrussischen Nationalismus. Nach einer direkten Konfrontation unter vier Augen, bei der Stalin sich weigerte, seinen Vorschlag zu ändern, übermittelte jeder dem Politbüro seinen eigenen Entwurf. Stalin bezeichnete Lenins Vorschlag einer »Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens« als »nationalen Liberalismus«.
Lenin verlangte, die Debatte im Politbüro nur dann anzusetzen, wenn er anwesend sei. Diesem Gremium gehörten damals sieben Mitglieder an. Stalin hätte allein mit der Unterstützung durch Tomski rechnen können. Deshalb versandte er einen neuen Vorschlag zu Händen nunmehr aller ZK-Mitglieder. Auch dieser Vorschlag ging nicht auf Lenins Überlegungen ein, die unter anderem vorsahen, daß die Sitzungen des Zentralen Vollzugsrats (ZIK) abwechselnd von einem der Vorsitzenden der entsprechenden Republikinstanzen zu leiten seien. Zwei Wochen später einigte man sich auf die Kompromißbezeichnung UdSSR.
Bis 1956 blieben Überlegungen Lenins öffentlich unerwähnt, die er während seiner Krankheit an zwei Tagen diktiert hatte. Er erklärte »dem großrussischen Chauvinismus« – als dessen besonders militante Verwirklicher er die Nicht-Russen Dzierz˙yn´ski, Ordshonikidse und Stalin im Auge hatte – »den Kampf auf Leben und Tod.« Bekannt geworden ist Lenins Eingeständnis (hier zitiert nach dem russischen Original – die Redaktion): »Ich bin, so scheint es mir, schuldig geworden vor den Arbeitern Rußlands (nicht den russischen Arbeitern! – W. W.) weil ich mich nicht genügend energisch und ungenügend scharf in die berüchtigte Frage der Selbstbestimmung eingemischt habe … Man sagte, vonnöten sei die Einheit des Apparats. Wo lagen die Ursachen für diese Beteuerungen? Gingen sie nicht gerade von jenem Apparat Rußlands aus, den wir … vom Zarismus übernommen und nur ein wenig mit sowjetischem Öl gesalbt haben … Unter diesen Bedingungen ist die ›Freiheit aus der Union auszutreten‹ … ein wertloses Blatt Papier, unzulänglich, die nichtrussischen Einwohner Rußlands vor jenem Großrussen, dem urrussischen Bürokraten Rußlands zu schützen, der von Natur aus ein Chauvinist ist, ein Schurke und Vergewaltiger zudem. Zweifelsohne wird der geringfügige Anteil sowjetischer und sowjetisierter Arbeiter in diesem großrussischen chauvinistischen Meer ertrinken, wie eine Fliege im Milchtopf.« Stalin wird von ihm in diesen Aufzeichnungen als »Grusinier« bezeichnet, »der in seinem Wesen und seinen Handlungen nicht nur ein ›Sozialnationaler‹ (dieses Wort folgt der abwertenden russischen Begriffsbildung ›Sozialchauvinist‹ – W. W.), sondern auch ein grober großrussischer ›In-die-Fresse-Schläger‹ (ist), der die Interessen der proletarischen Solidarität verletzt.«
Stalins großrussische Politik obsiegte. Und ein Wesenselement dieser Großmachtpolitik im Geiste der »mächtigen Rus« (wie es in der neuen Staatshymne hieß, die die Internationale abgelöst hatte) waren jahrzehntelang Völkerdeportationen; 1920 wurden erstmals einige Zehntausend Terek-Kosaken deportiert – 1952 letztmalig große Gruppen von Tadshiken.
Stalin, der vormalige Volkskommissar, errichtete anstelle des alten Imperiums Rußland ein Staatengefüge, das weit über die ursprünglichen Grenzen des Imperiums hinausreichte, sozial und wirtschaftlich anders strukturiert, aber letztlich um ein Vielfaches despotischer als das autoritäre Rußland von einst war. Auch deshalb zerbrach es ab 1989/90 noch leichter als das zaristische im Frühjahr 1917 in tausend Scherben.