von Gerd Kaiser, z. Z. Guangzhou
Professor Wu Yuanliang vom Institut für Philosophie der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften in Beijing benennt Chinas derzeit wichtigste Entwicklungsprobleme so: Erstens: China entwickele sich zur »Weltfabrik«, und diese rasante Entwicklung sei sowohl mit Vorteilen als auch mit Nachteilen für das Land, vor allem die Landeskinder, verbunden. Die bildhafte Beschreibung Wu Yuanliangs dafür: »Kapitalistische Elemente sind wie Käse. Sie stinken, aber der Käse schmeckt.« Zweitens: Während die Wirtschaft sich schnell entwickelt, bleibe das Sozialsystem weit zurück. Das äußere sich in Ungleichheiten und auch in Ungerechtigkeiten. Große Teile der chinesischen Bevölkerung seien gezwungen, sie hinzunehmen. Die Folge: scharf konturierte soziale Gegensätze und Kontraste, mancherorts auch Konfrontationen. Drittens: Dem politischen System sei ein starkes Beharrungsvermögen eigen. Seine Haltung werde vor allem durch die Furcht vor politischen Unruhen bestimmt, die begründet sei. Deshalb habe bei den politischen Entscheidungsträgern das Beharren auf politischer Stabilität den Vorrang vor allen anderen Problemen in China. Zu ihnen gehören beispielsweise die starken Unterschiede zwischen der Entwicklung von Stadt und Land; zwischen den hochentwickelten Provinzen von Chinas Osten und den schwach- beziehungsweise unterentwickelten Westprovinzen.
Diese – hier nur auswahlweise sowie stark verkürzt und verallgemeinert referierten – wissenschaftlichen Standpunkte werden nicht in jedem Punkt von den Politikern geteilt, jedoch sowohl intern als auch öffentlich in China zur Sprache gebracht. Die Presse berichtet über bestechliche Machthaber sowie über Maßnahmen von Regierungsstellen und Gerichten, korrumpierte Staatsdiener oder Funktionäre der KP Chinas zur Verantwortung zu ziehen beziehungsweise Wanderarbeitern zu ihrem Recht, das bedeutet oftmals zum von ihnen sauer verdienten zustehenden Lohn, zu verhelfen. Die interaktive Kommunikation zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft scheint zumindest partiell zu funktionieren. Allerdings werden auch gegenläufige Entwicklungen sichtbar: daß Regierungsbehörden und Gerichte nicht immer konsequent dafür sorgen, daß der Rechtsanspruch auch verwirklicht wird.
Professor Yu Yuixi, er forscht zur Geschichte der Arbeiterbewegung, schätzt, daß es derzeit – eine offizielle Statistik gibt es zu diesem Punkt nicht – annähernd zehn Prozent Arbeitslose in China gebe. Regierungsseitig werde sich aber stärker um sie gekümmert als vor drei Jahrzehnten, bevor die Wirtschaftsreformen durch Deng Xiauping in Gang gesetzt und schrittweise verwirklicht wurden.
Ein spezielles chinesisches Problem sind die Wanderarbeiter. Annähernd einhundert Millionen Menschen sind dieser Kategorie zuzuzählen. (Derzeit lebt ein Viertel der Menschheit – 1,3 Milliarden Menschen – in China.) Jährlich kommen annähernd dreizehn Millionen neue Wanderarbeiter zu dieser chinesischen Variante einer industriellen Reservearmee hinzu. Die Wanderarbeiter, vorwiegend vom Lande stammend, nehmen nicht zuletzt Arbeiten an, die auch für chinesische Verhältnisse nicht goldig sind. In der Landwirtschaft, im Bauwesen, wo immer es etwas zu verdienen gibt. Ein Teil ihres Lohnes geht für den eigenen Unterhalt drauf, alles, was sie erübrigen können, schicken sie ihren zu Hause gebliebenen Familien. Daneben gibt es aber auch nicht wenige völlig entwurzelte Wanderarbeiter, die gemeinsam mit ihren Familien auf der Suche nach Lohn und Brot unterwegs sind.
Fünf von ihnen begegnete ich auf der Milchviehfarm eines Bauern in Nordchina, der zugleich Sekretär der Parteiorganisation der KP Chinas im Dorf war. Die aus der Inneren Mongolei stammenden Wanderarbeiter verdienen 500 Yuan monatlich (ezwa fünfzig Euro), ihr Bauer 540 Yuan. Sein Hof verfügt bereits über eine elektrische Melk- und eine Kühlanlage, schwere Handarbeit auf dem Anwesen ist jedoch nach wie vor vonnöten.
In der südchinesischen Provinz Guangzhou, wo ich mich ebenfalls aufhielt, waren gerade fünfundzwanzig Wanderarbeiter von ihren »Arbeitgebern« tätlich angegriffen worden, als sie den ihnen zustehenden Lohn einforderten. Diese Art Auseinandersetzung sei, so war zu erfahren, keine Seltenheit. Schamlos werde versucht, die labile soziale Lage der Wanderarbeiter beziehungsweise der Wanderarbeiterfamilien auszunutzen, sie zuerst auszupowern und dann davonzujagen. Die fünfundzwanzig in Rede stehenden Wanderarbeiter in der Provinz Guangzhou setzten sich zur Wehr und wandten sich auch an die Regierung. Premier Wen Jiahajo verlangte daraufhin von den regionalen Behörden entschiedene Maßnahmen, um zu sichern, daß zustehende Löhne ohne Umschweife ausgezahlt werden. Die Rechtsprechung, so die Regierung, sei gefordert, ihrer Verantwortung nachzukommen. Sind doch die derzeitigen Schulden der »Arbeitgeber« immens: Sie betragen einhundert Milliarden Yuan, das sind umgerechnet zehn Milliarden Euro! Besonders hohe Rückstände in den Lohnauszahlungen gibt es in den Provinzen von Chinas Nordosten und Nordwesten, in Xinjiang, Heilongjian und Uygur.
Da derzeit lediglich jeder fünfte Wanderarbeiter einen hieb- und stichfesten Arbeitsvertrag hat, fällt es achtzig Prozent von ihnen schwer, ihren Lohn einzuklagen. Darüber hinaus sind Wanderarbeiter, im Unterschied beispielsweise zu Staatsangestellten, bisher generell nicht sozialversichert. He Bing, Funktionär des Gewerkschaftsverbandes, verlangte im Rahmen der öffentlichen Debatte um dieses Thema, die Rechte der Wanderarbeiter durch gesetzliche Regelungen zu stärken. Schließlich sollen 300 Yuan künftig der monatliche Mindestlohn sein.
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