Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 20. Dezember 2004, Heft 26

Schachtel-Café-Bar

von Wolfgang Haible, Peking

Unser Ziel war die Schachtel-Café-Bar. Wir wollten uns Woman Space ansehen, einen Interview-Film über Studentinnen. Die Café-Bar ist ein nichtkommerzielles Kino; man muß weder Eintritt zahlen noch etwas zu sich zu nehmen. Das Café besteht aus zwei Räumen, im größeren mit der Bar ist das »Kino«. Es besteht aus vier Reihen klobiger kleiner Holzstühle und einem Vorhang, der, wenn der Film beginnt, Café und »Kino« trennt. Platz gibt es für maximal dreißig Besucher.
Das Café, das mit seinen Preisen etwas unterhalb der von den Touristen so gerne frequentierten »Bar-Straße« liegt, erinnert an westdeutsche Lokale der achtziger Jahre. Bar, Tische und Stühle sind aus dunklem, grob gezimmertem Holz, alles macht einen guten, »alternativen« Eindruck. An den Wänden gibt es Regale mit offenbar gespendeten Büchern und Zeitschriften. Soweit wir erfahren konnten, gehört das Café einigen Intellektuellen, die es seit drei Jahren betreiben. Auch das Konzept dieses Ortes erinnert stark an entsprechende Versuche in Deutschland; man will mit Kultur intellektuelle Kunden in das Lokal locken; dabei verzichtet man fast ganz auf Werbung und verläßt sich auf die Mund-zu-Mund-Propaganda.
Space Woman schildert – mit englischen Untertiteln und dem Charme des Amateurhaften – Räume und ihre (Nicht-)Nutzung von Studentinnen an der Uni. Es beginnt mit dem Befremden zweier Taiwanesinnen über die öffentlichen Toiletten in China, die keine oder kaum Intimität kennen (Kabinenwände); freilich bei strikter Trennung der Geschlechter. Viel wird über die Liebe und die Schwierigkeiten berichtet, ihr an der Uni nachzugehen. Die Studentinnen gehen zu ihren Freunden in deren Zimmer – umgekehrt ist es verboten, und das Verbot wird auch respektiert; derweil verlassen die anderen Männer in solchen Fällen das Zimmer. Auch in China hat die Werbe- und Kosmetikindustrie die jungen Frauen erfolgreich verunsichert, was Busengröße und eventuelle Korrekturmöglichkeiten angeht. Die jungen Frauen scheinen zwischen chinesischer Tradition, (auch sexueller) Emanzipation und dem Terror der Kosmetikindustrie zu stehen, und sie orientieren sich ganz verschieden.
Nach dem Film legt die Frau an der Bar schlimmste deutsche Schlagermusik auf (So ein Tag, so wunderschön wie heute …). Chinesen verstehen, zumindest wenn sie nicht sehr gut Deutsch sprechen, diese Schlagertexte nicht. Deshalb war wohl nur der einzig deutsche Gast an diesem Abend davon genervt. Im Bus zurück schimpften zwei Studentinnen über ihre Zimmergenossinnen, die jeden Tag duschen, sie meinen, ein- bis zweimal in der Woche würde im Winter reichen. Unfreiwillig erlauschen wir auch den Grund des Ärgers: Die Kosten für Wasser und Gas werden durch die Zahl der Zimmerbewohnerinnen geteilt.
Von den vielen an Kultur interessierten armen Studenten kann das Café nicht existieren; die reicheren Studenten leben ihre kräftig geschürten Distinktionsbedürfnisse an anderen, gut bewachten Orten aus. Eine Dreiteilung bietet sich dar: eine nicht geförderte, wie auch immer unabhängige, privat organisierte Kultur, die durch Partei und Gewerkschaft geförderte sowie schließlich die kommerzielle Massen- und »Elite«-Kultur. Ob sich eine »alternative«, nichtkommerziell-kommerzielle Kultur etablieren kann, ist eine spannende Frage in der »sozialistischen Marktwirtschaft«.