Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Dezember 2004, Heft 25

Postindustrieller Dekonstruktivismus

von Martin Nicklaus

In Ost wie West galt ein immerwährendes Wachstum als ein Dogma, das zu gestatten schien, die vom Club of Rome 1970 veröffentlichten Thesen von den Grenzen des Wachstums zu ignorieren.
Doch immer schon hieß Wachstum auch gleichzeitig Schrumpfung. Ein Beispiel: Wachsender Absatz in der Autoindustrie wird gefeiert, die damit gekoppelte Minderung der Lebensqualität durch mehr Lärm, Dreck, Schadstoffe, Unfallgefahr und Stau dagegen spielen kaum eine Rolle. Minderung, Schrumpfung, Verlust und dergleichen gelten als pejorative Begriffe und wurden deshalb durch Vokabeln wie Minuswachstum ersetzt. Im Sinne dieser Begriffsverwirrung schenkt uns vielleicht bald ein Worthülsendreher den Postindustriellen Dekonstruktivismus. Denn in etlichen Städten alter Industrienationen findet eine Entwicklung statt, die immer weniger ignoriert werden kann: Sie schrumpfen.
Im Rahmen des Programms Stadtumbau Ost wurde in den neunziger Jahren mit rund 34 Milliarden Mark auch der Wohnungsbau gefördert – nun wird für eine Milliarde Euro, auch so ein Wort, »zurückgebaut«. Nebenher lief verrückterweise die Eigenheimzulage weiter. »Bau auf, bau auf!, Reiß ab, reiß ab!« Kopf des Unternehmens ist Manfred Stolpe, Meister der Inkompetenz. Wer die Internetseiten seines Ministeriums durchsieht, erfährt: Stadtumbau Ost = Aufbau Ost. In der Praxis aber bedeutet Stadtumbau fast ausschließlich Abriß, woraus sich jene weniger euphemistische Formel ergibt: Aufbau Ost = Abriß Ost.
Abgerissen werden Plattenbauten, wobei ihnen, wie jedem Feind, der vernichtet gehört, Häßlichkeit unterstellt wird. Dabei geht es hier überhaupt nicht um Ästhetik, sondern um einen Finanzdeal, der Fehler aus dem Einigungsvertrag kaschieren soll: Pro abgerissene Wohnung entlastet der Staat die Wohnungsverwaltungen von »Altschulden«. Die waren entstanden, weil dem finanzpolitischen Hasard der Währungsunion, also den Ausgaben, die es nicht geben konnte, weil die Einheit nichts kosten durfte, irgendwelche wenigstens theoretischen Einnahmen gegenüberstehen sollten. Also halluzinierte der damalige Finanzminister »Altschulden« herbei. Zu Beginn des Projektes Stadtumbau gab es außerdem noch folgenden Gag: Die Schulden blieben auch für die abgerissenen Gebäude bestehen.
Beobachten kann der Interessierte den »Stadtumbau« beispielsweise in Hoyerswerda. Wer sich von Berlin aus auf der Autobahn der Stadt nähert, dem wird sofort ein Problem bewußt: Von der Autobahn führt kein Weg direkt in die Stadt; ständig Abzweigungen oder Umfahrungen. Hoyerswerda liegt sozusagen hinter den fünf Bergen (nicht sieben, daß wäre zu bedeutungsvoll). Abseits der großen Verkehrsströme und nach Niedergang der ostdeutschen Industrie und des Energiesektors sieht die örtliche wirtschaftliche Lage entsprechend aus. Die 25 Prozent Arbeitslosigkeit sagen absolut nichts über den wirklichen Zustand, sind geschönt, durch ABM, Weiterbildung und Frührentner. Den Strukturwandel, der im Ruhrgebiet ein Vierteljahrhundert dauerte, mußte die Stadt in einem Jahr vollziehen, das heißt, es gab eigentlich nur Zusammenbruch, keinen Wandel. Wohin auch? Die entfallenden Jobs sind durch nichts ersetzt worden. Nicht mal durch Illusionen.
Viele fliehen in den Westen. Von ehemals 70000 Einwohnern gibt es noch 45000, Tendenz weiter fallend, und mit jedem Einwohner verlassen 14000 Euro Kaufkraft die Stadt (der Bundesdurchschnitt liegt ein Viertel höher). Reihenweise stehen Häuser leer, jetzt wird entdichtet, wie die Bauverwaltung das Abreißen nennt. Ende 2003 wurde das Szenario durch das Kunstprojekt Superumbau, mit wechselnden Veranstaltungen, einer Ausstellung, Filmen und einem Theaterstück thematisiert. Am Abschlußabend machten Caspar Brötzmann und FM Einheit mit Handbohrmaschine und Motorgitarre ohrenbetäubende Abrißgeräusche.
Hoyerswerda schrumpft nicht etwa von außen her, denn dort stehen die modernsten, bestausgestattetsten Blöcke. Vielmehr wird anarchisch beseitigt, was frei ist oder leergezogen werden kann. Bald fehlt hier ein Kasten, bald dort, ohne daß sich dem Betrachter bei der Vorgehensweise irgendein System jenseits des Zufalls erschließt. Der Stadt bringt das wenig. Die Straßenbeleuchtung muß bis ans letzte Ende der weiterhin zu reinigenden Straßen betrieben werden, und die Kanalisation bedarf hin und wieder eines Einlaufes gegen Verstopfung, drücken doch nicht mehr genügend Bürger den Spüler. Busse grasen fast leere Gebiete ab, städtische Einrichtungen sind plötzlich zu groß und zu zahlreich. Und weil vornehmlich die Jungen wegziehen, vergreist die Stadt.
Die Altstadt wurde liebevoll saniert. Auf dem großzügigen Marktplatz scheint es aber ständig Sonntagmittag zu sein, kaum eine Menschenseele verläuft sich hierher. Entsprechend leer sind jene Läden, die sich noch halten können. Der einstige »Magnet«, da war der Name des Kaufhauses gleich Programm, versucht, sich mit Billigwaren über Wasser zu halten; aber kaum jemand fühlt sich angezogen. Wer Menschen sucht, gehe in der Neustadt in die gesichtslose Einkaufspassage Marke Ostdeutschland.
Was es noch an Kaufkraft gibt, versammelt sich hier oder ist am Stadtrand bei einem Riesenmarkt für alles und jedes. Mit der Entscheidung für diese großflächigen Massenverkaufsanlagen hatten die Stadtoberen schon das Urteil über die Altstadt gesprochen, bevor mit deren Sanierung begonnen worden war. Ohne Gewerbe und Handel fehlen wichtige Mieteinnahmen, die es braucht, Gebäude zu erhalten. Aber wer weiß, was für eine Förderung demnächst aufgelegt wird. Jetzt wird erst mal die Platte gestutzt. Ein tragfähiges Konzept verantwortungsvoller Zukunftsgestaltung steht nicht dahinter; nur die abgesunkenen Immobilienpreise werden stabilisiert.