Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 20. Dezember 2004, Heft 26

Die Eingebetteten

von Wolfgang Sabath

In einem Gemeinwesen, in dem Haarbeschneider, Boxer, Fußball- und Tennisspieler, Talkshowfuzzis sowie Hundeartikeldesigner und Schlagersänger zur geistigen Elite des Landes gerechnet werden, ist alles möglich – auch die Widerspruchslosigkeit, mit der die deutsche Presse inzwischen ihrer Leserschaft ein X für ein U vormachen und sie für dumm verkaufen kann.
Die Berichterstattung der vergangenen Wochen über die Vorgänge in der Ukraine könnte geradezu – gesammelt und gebunden – ein treffliches Studienmaterial für Publizistik-Seminare abgeben, Thema: »Wie verhalte ich mich staatstragend, indem ich Objektivität simuliere?«
Damit wir uns recht verstehen (derlei Einschübe sind zwar lästig, aber in Deutschland inzwischen zu einem scheinbar unvermeidbaren Ritual geworden …): Mir sind die Oligarchen aus der Westukraine so lieb und teuer wie jene aus dem Ostteil. Es ist mir egal, wer den ukrainischen Hungerleidern das Fell über die Ohren zieht. Nicht aber so der deutschen Presse, und zwar nahezu ausnahmslos! Die hatte vom ersten Tag des Konfliktes an schon die Schuldigen ausgemacht: »die Russen«, die ostukrainischen Clans, die »Postkommunisten«.
Nur in den Feuilletons durfte gegen den Strom geschwommen werden. Denn, wie Franziska Augstein, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, im Oktober auf einer Tagung von DeutschlandRadio Berlin zum Kulturjournalismus anmerkte: »Was im Feuilleton steht, wird nicht ganz ernst genommen.« Auch darum zum Beispiel darf Volksbühnen-Intendant Frank Casdorf in seiner regelmäßigen Kolumne in der Berliner Zeitung mögliche Gedankengänge des Wahlsiegers (und als Wahlfälscher überführten) Viktor Janukowitsch folgendermaßen nachempfinden: »Die demokratischen Abmahnungen des Westens sind unglaubwürdig. Wäre der Oppositionsführer Juschtschenko zum Sieger erklärt worden und wären ihm Wahlmanipulationen nachgewiesen worden, der Westen hätte geschwiegen, weil dieser Kandidat in seinem Interesse gelegen hätte.« Janukowitsch, vermutet Casdorf, »könnte behaupten«, er habe »von den Neokonservativen in den USA gelernt, Politik muß durchsetzbar sein. Wenn das mit demokratischen Mitteln gelingt, ist es gut und nutzt der Legitimation. Wenn nicht, muß es auch anders gehen … «
Im Falle des innerukrainischen Konfliktes praktizierte die hiesige Presse eine Einseitigkeit, die an »Eingebettetheit« – und zwar sowohl in westeuropäische als auch in deutschstaatliche Interessenlagen – kaum zu überbieten war. In der Vergangenheit war das von ihr bislang nur gelegentlich bei Nahost-Konflikten erreicht worden. Und, natürlich, im Falle Jugoslawien.
Führende Zeitungen hatten ihre Hardliner nach Kiew in Marsch gesetzt; oft brauchte man nur die Namen der Autoren zu lesen, und man wußte, wie die Texte lauten würden. In jedem Fall war einem wenigstens die Intonation bekannt. Man wußte von vornherein, daß ein seriöse Analyse der Kiewer Ereignisse unterbleiben würde, man wußte, daß die Fragen nach der Rolle von Organisationen, die von George Soros finanziert werden oder in denen Madeleine Albright eine Rolle spielt, von den Korrespondenten unterbleiben. Derartiges passierte, wenn überhaupt, »hinten« – in den Feuilletons.
Auch die Märchenerzähler hatten ihre Zeit. In Berlins Tagesspiegelschwärmte ein polnischer Historiker über die sonnige Epoche der Lubliner Union, derer man sich jetzt wieder besänne. Momentan ist es fraglich, ob sich die Mehrheit der Ukrainer ebenso erinnert, oder ob nicht bei ihnen eher die Erinnerungen an die Vorkriegszeit und die zum Teil zumindest Sorgenfalten produzierenden Segnungen polnischer Dominanz vorherrschen.
Das alles wird sich erst zeigen. Ausgemacht ist auch noch nicht, ob und wann der ukrainischen SS-Division Galizien – oder der UPA Stefan Banderas – in Kiew ein Denkmal errichtet werden wird.
Pikanterweise waren auch öffentlich-rechtliche Korrespondenten »eingebettet« wie selten zuvor. Das zeigte sich selbst in der Sprache. Wenn sich in Kiew zehntausende Juschtschenko-Anhänger versammelt, war das eine Manifestation unbändigen Demokratiewillens, wenn in Donezk für Janukowitsch demonstriert wurde, waren das »Versuche ostukrainischer Clans, Fell und Pfründe« zu retten. Daß die Demonstrierenden eigene Gründe gehabt haben könnten, wurde fast nie auch nur ansatzweise in Betracht gezogen. Dermaßen Voreingenommenheit mußte geradewegs dazu führen, daß – wieder nur ein Beispiel von vielen – der Tagesspiegelnichts dabei fand, die Oppositionelle – und ehemalige Ministerin – Julia Timoschenko, eine wegen Korruption vorbestrafte Millionärin, mit einem Titelbild zu würdigen. Aber da sie ja von den ostischen Machthabern in den Knast gebracht worden war, werden ihr ihre einstigen Durchstechereien natürlich nicht nur verziehen, sondern sie wird  zur Ikone erklärt. Ähnliches war schon bei der publizistischen Behandlung des in Moskau einsitzenden Gasprom-Chefs zu beobachten gewesen.
Der Kaufmann Roman Dimidschiev kam vor zehn Jahren nach Bochum. Im WDR sagte er: »Wenn ich in Deutschland Nachrichten sehe und dann mit meinen Freunden in der Ukraine telefoniere, liegen da Welten dazwischen. Wenn in Kiew Menschen demonstrieren, heißt es, ›das Volk demonstriert‹. Aber fragen Sie doch mal die Menschen in Donezk nach ihrer Meinung. Die sind auch Teil des Volkes.« Dann bringt er es auf den Punkt: »Ich weiß nicht, welche Mafia die schlimmere ist – die in Kiew oder die in Donezk.« Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind – aber mit fast hundertprozentiger Sicherheit ist keine schlimmer als die andere. Aber die deutschen Zeitungen sowie das Fernsehen und der Rundfunk haben längst ihre Wahl getroffen.
Alles das wäre erträglicher, wenn sich zu den jeweiligen Interessenlagen bekannt würde und man die Demokratie-Tutereien außen vor ließe. In dieser Beziehung geradezu beispielhaft verhielt sich unlängst der französische Sozialist Michel Rocard im Auswärtigen Ausschuß des Europaparlaments, als es um die EU-Aufnahme der Türkei ging und die Konservativen die dortige Menschrechtssituation kritisierten und Grüne sowie Sozialdemokraten dieselbe schönredeten: »Reden wir nicht über Menschenrechte, reden wir über Geopolitik.« Auch dieser Mann ist eingebettet. Aber er steht dazu.
Und unsere Eliten? Beckenbauer goes Kiev – was will man mehr.