Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 8. November 2004, Heft 23

Kulturpalast

von Günter Agde

Der Kulturpalast Bitterfeld beging kürzlich seinen 50. Geburtstag. Er wurde von einem privaten Betreiber mit einem Feuerwerk der Schlagermusik neueröffnet. Zeitgleich startete die Stadt Bitterfeld in der Keller-Galerie ihres Rathauses eine bemerkenswerte kulturhistorische Ausstellung Kultur Palast Bitterfeld (Konzept: Stefanie Wahl, wissenschaftliche Mitarbeit: Simone Barck) über die Geschichte und Bedeutung dieses Gebäudes.
Die Idee hatte der sowjetischen Generaldirektor der SAG Chemie von zu Hause mitgebracht: Für die vielen Chemiearbeiter des Bitterfelder Großbetriebs sollte ein Kulturhaus gebaut werden, so wie sich in der Sowjetunion viele Betriebe solche Gebäude errichtet hatten: ein Theatersaal (mit Variante zum Kinobetrieb), darum herumgebaut Garderoben, Restaurant, Zirkel- und Leseräume als Fortbildungs- und Kommunikationsangebote. Als der Bitterfelder Bau 1954 eingeweiht wurde, war das Werk inzwischen volkseigen geworden – nach Art der DDR-deutschen Auslegung dieses Eigentums-Begriffs. Der Betrieb blieb via Gewerkschaft der Hauptmäzen: Von ihm kam kontinuierlich und krisenfest viel Geld, um den Bau und sein lebendiges Innenleben über Jahrzehnte in Gang zu halten.
Die Architektur des Hauses stellte eine unbekümmert-handfeste Mischung von neoklassizistischen Elementen (antikisch anmutende Säulen am Portal, Fenstersimse) und funktionaler Zweckgebundenheit dar: ebenmäßig rechteckig geschnittene Räume, deren Nutzung folglich schnell wechseln konnte, maßvolle Wege im Innern, große Fenster für viel Licht, geräumige Umlauf-Foyers, Bühne und Bühnentechnik nach damaligem Standard modern. Der Anspruch »Palast« war durchaus ernst gemeint, wenn er auch auf die bescheidenen finanziellen und dekorativen Mittel der noch jungen DDR zurückgestutzt bleiben mußte.
Um den Standort des Gebäudes hatte es wohl internen Streit gegeben: im Zentrum der Stadt Bitterfeld oder – wie dann entschieden wurde – in Betriebsnähe. Nun also gegenüber dem Haupttor als permanente steingewordene Einladung an die in drei Schichten arbeitenden Chemiearbeiter (von denen die meisten nach Feierabend nach Hause wollten: Sie kamen aus den Dörfern der Umgebung, vor allem aus der Dübener Heide, und wurden mit einer Armada von Bussen herangebracht).
Der Theatersaal, das Zentrum des Baus, mit 1200 Sitzplätzen (durchweg gute Sicht!) blieb professioneller Kunst vorbehalten: Hier gastierten oft so ziemlich alle renommierten Theater des Landes, auch Revuen und Estraden-Programme, ihre Vorstellungen waren immer gut besucht.
Der kompakte »Rest« des Hauses sollte regionales Zentrum, Produktionsort und Werkstatt für alle Formen des künstlerischen Volksschaffens werden – und wurde es. Dies Wortungetüm charakterisiert sachlich treffend, aber kaum griffig, was in dem Hause tagtäglich und lange Jahre wirklich passierte. Die Arbeiter des Werkes sollten kulturelles Leben selbst gestalten, indem sie ihre eigenen musischen Fähigkeiten entwickelten und realisierten. So fanden sich Interessierte und Begabte zu Zirkeln (unter meist kompetenter Anleitung) zusammen, die regelmäßig arbeiteten und diskutierten. Viele Arbeiter des Elektro-Chemischen Kombinats (EKB), ihre Familien und Freunde, haben hier ihre ersten Erfahrungen mit Kunst gemacht, und eine interessierte Öffentlichkeit nahm daran lebhaften Anteil.
Vor allem entwickelten sich in Bitterfeld die Zirkel für Malerei und Graphik, für Literatur und das Amateurfilmstudio, weil sie personell am stärksten waren, am längsten arbeiteten und die meisten Ergebnisse in der Öffentlichkeit vorstellen konnten. Aller Arbeitszubehör wurde vom Trägerbetrieb bezahlt: Farben und Leinwände, Zeichenpapier, Rohfilm. Eine reich sortierte Betriebsbibliothek auf dem Werksgelände flankierte sinnvoll die musischen und Freizeitbedürfnisse.
Die Wechselwirkungen der Zirkel untereinander und ihre multiplizierenden Impulse funktionierten am besten über gemeinsame Projekte: meist Anthologien des Literatur- und Malerzirkels und bei Wettbewerben und »Ausscheiden« (noch so ein Wort!). Dies darzustellen ist ausstellungstechnisch schwer zu bewerkstelligen. Die Ausstellung präsentiert die Bücher der Zirkel in Vitrinen und zeigt viele Tafeln mit Faksimiles und Fotos.
Zur Ausstellungseröffnung bildeten einige wenige Gemälde des Malerei-Zirkels im Bitterfelder Rathaussaal eine attraktive Kulisse, die aber über eine Stellwand-Funktion kaum hinausging. Die Stadt hat keine finanziellen Möglichkeiten, die reichen Bestände anständig aufzubewahren. So mußten sie einstweilen nach Halle verlagert werden (könnte man sie nicht der DDR-Kunstsammlung in Beeskow zufügen?). Der Zirkel für Malerei und Graphik hat bildnerisch vor allem Szenen aus dem Arbeitsleben erfaßt – solide in den traditionellen Techniken gemalt, wie sie dem prinzipiell gängigen Realismusverständnis der DDR entsprachen. Auch die Bilder, die die Zirkelmitglieder von Moskau- und Sowjetunionreisen mitbrachten, wiesen kaum Innovatives oder Avantgardistisches aus. Deutlich ist zu sehen, daß die Amateure in ihren Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt blieben und der Spaß an der Sache und am musischen Charakter von Freizeitausgestaltung überwogen.
Einen Schwerpunkt in der Bitterfelder Palastarbeit bildete das Amateurfilmstudio, das über Jahrzehnte hinweg (unter der Leitung von Alfred Dorn) Filme über Alltag und Leben der Chemiearbeiter und ihrer Region produzierte. Diese Filme (deren Kopien leider ziemlich verstreut aufbewahrt werden – gottlob sind sie nicht vernichtet!) strahlen einen besonderen Reiz aus: Obwohl sie zuweilen angestrengt beweisen wollen, daß sie Kunst machen, bieten sie einen besonderen Blick auf ihre Umwelt – von ihresgleichen und »in Augenhöhe« (den nur die besten der professionellen DEFA-Dokumentarfilme erreichten). Auch wenn der Amateurstatus nicht zu leugnen ist und die naiv-illusionären Absichten nicht zu übersehen sind, transportieren die Filme ein Maß an Authentizität gerade dieser Lebenswelten, das so kaum sonstwo zu beobachten ist. Leider findet sich davon in der Ausstellung kaum etwas wieder – nur paar kleine Einspielungen in der Ecke, leicht zu übersehen und sparsam kommentiert. Dieser (noch verborgene) Schatz ist reicher, als die Ausstellungsmacher berücksichtigten.