Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 8. November 2004, Heft 23

Herbst im Lande

von Ove Lieh

Es ist Herbst geworden in der deutschen Demokratie, und die Blätter fallen – vor allem über den Wähler her, weil der wieder nichts Rechtes gewählt hat. Das heißt, er hat zwar zum Teil rechts gewählt, aber das war auch wieder nicht recht. Denn nun fragt man sich, was wohl die Leute dazu sagen werden. Neun Prozent NPD im sächsischen Landtag! Und wieviele Nazis insgesamt drin sind, weiß man damit noch nicht einmal genau. Da bleiben doch die Touristen weg! Besonders die, die bisher noch nie kamen und überlegen, ob sie es überhaupt noch tun sollen. Denen schon immer am liebsten gewesen wäre, gar nicht kommen zu müssen, und die nun einen Grund dazu haben. Fahren lieber nach Italien. Auch die bisher in rauhen Massen einwandernden Investoren kommen nicht mehr her, weil neun Prozent eben keine ausreichend stabile Basis für die Wirtschaft sind. Da macht man doch lieber Geschäfte mit China, wegen der stabilen politischen Verhältnisse. Da sitzen nicht plötzlich deutsche Nazis im Parlament, höchstens ein paar Menschenrechtler im Knast. Für hinreichende Stabilität kann man ruhig auf ein wenig Demokratie verzichten. Für die Sicherheit tut man das ja auch.
Und sogar die Einheimischen fühlen sich im Osten nicht recht wohl. Die »Abstimmung mit den Füßen« geht weiter, und mit den Rechten hat das nicht so viel zu tun. Vielleicht waren ja häufig auch früher schon ganz andere als politische Gründe für derartige Wanderungen ausschlaggebend? Dann würde auch dem letzten der ehemaligen DDR-Bürgerrechtler klar werden, weshalb man nach der Wende nichts mehr von ihnen wissen wollte.
Viele der Dagebliebenen im Osten vergrübeln nun ihre endlosen Tage über den Hartz-IV-Anträgen. Außer montags und manchmal donnerstags, da wird ein wenig demonstriert. Draußen gehen inzwischen die großen Kaufhäuser kaputt. Logisch. Wenn das produzierende Gewerbe seine Arbeitsplätze ins »Billigausland« verlagert, werden die Kaufhäuser das auch tun müssen. Für den Versandhandel ist es ebenfalls nicht sinnvoll, die in China produzierten Waren nach Deutschland zu importieren, um sie anschließend an die Kunden in Asien zu liefern.
Eines Tages wird man deshalb die Zurückgebliebenen ähnlich versorgen müssen wie die Indianer in den USA in ihren Reservaten oder andere Ureinwohner anderswo: Lebensmittelgutscheine und ab und zu etwas Geld für Schnaps und andere Drogen. Für den Rest sind sie dem Land egal, und niemand stößt sich ernsthaft daran. Irgendwann eignen sie sich dann vielleicht für folkloreorientierte Besichtigungstouren.
Aber was wird aus der Demokratie? Da machen immer weniger mit; aber sie gilt bis zuletzt als Demokratie. Man darf gespannt sein, ab welcher Wahlbeteiligung das anders wird. Wenn allerdings bei unter sechzig Prozent Wahlbeteiligung über neun Prozent Nazis wählen, dann muß man bald auch die PDS als demokratische Partei bewerten, sonst sind irgendwann die Demokraten total in der Minderheit. Und das wäre ganz schlimm, wo doch für die Demokratie meistens – nur in den USA eher selten – die Mehrheit so entscheidend ist. Vielleicht kann man ja die Nichtwähler als Demokraten zählen – als passive. Passivraucher gibt es auch, und die sind krebsstatistisch gesehen genauso wertvoll wie die richtigen Raucher. Also kann man die Nichtwähler ruhig dazuzählen, und die Demokratie ist gerettet.
Nichtwähler müssen ja auch nicht gleich der ganzen Demokratie abhold sein, wenn sie mal nicht wählen. Kann ja sein, sie mögen einfach einige aktuelle Demokraten nicht, oder sind mit dem zufrieden, was sie haben und sehen gar nicht ein, etwas anderes zu wählen. Oder, sie lassen es ganz einfach andere für sich tun. Das ist dann repräsentative Demokratie in Potenz.
Vielleicht würden sie ja eigentlich gern wählen, wenn es denn etwas Wählbares gäbe. Andere sitzen nägelkauend zu Hause und ringen mit sich selbst, schleppen sich dann mit Gewalt durch die Gartenpforte hin zum Wahllokal und wählen eventuell NPD oder FDP, um überhaupt etwas zu wählen, weil man ja kein Undemokrat sein will, der nicht mitspielt, aber eben auch kein einfacher Mitmacher. Man sucht sich einen Ersatzwahlgrund. Vielleicht findet man Westerwelle zum Schießen, was kein Aufruf zur Gewalt sein soll. Oder man wählt Grün, schließlich liebt man Tiere auch und hilft im Winter den armen notleidenden Vögeln.
Aber mal Hand aufs Herz, die wählt man ja alle nicht, weil sie sich wirklich um einen kümmern würden. Man ist doch kein Millionär und schon gar nicht genmanipuliert. Das sind reine Notlösungen, der Hilfeschrei des ratlosen Demokraten sozusagen. Die anderen Parteien spielen die gleiche Rolle, denn kein vernünftiger Mensch will einen 1-Euro-Job haben oder den Kündigungsschutz abschaffen, gar den Sozialismus einführen. Denn mal ehrlich, nur weil der Kapitalismus eine gewisse Zeit nicht so richtig funktioniert, muß man doch auch nicht gleich den Sozialismus errichten. Wenn ein Auto nicht mehr richtig läuft, wirft man ja auch nicht gleich den Motor raus, geht nur noch zu Fuß und läßt die Straßen verfallen, sondern repariert die Kiste. Im Moment hat eben nur die Werkstatt nicht so tolles Personal. Es ist ja auch kaum was im Angebot. Deshalb will sich gar keiner mehr entscheiden, das heißt per Wahl Regierer einstellen.
Hinzu kommt noch der unverschämt starke Kündigungsschutz für Regierende. Würde man den lockern, wären die Leute auch wieder bereit zu wählen. Gegenwärtig würde es wahrscheinlich vor allem verhaltensbedingte Kündigungen geben. Um Komplikationen bei der Stütze zu vermeiden und die Leute schnell loszuwerden, könnte man sie aber im gegenseitigen Einvernehmen als betriebsbedingt deklarieren. Wäre ja auch nicht ganz falsch.
Aber im Moment gehen eben immer weniger Leute wählen. Allerdings gilt auch: Je weniger Leute wählen gehen, desto größer wird die Chance, endlich einmal zu erfahren, wer das eigentlich ist, der uns fortlaufend mit so unerträglichen Regierenden beglückt. Bisher will es ja immer keiner gewesen sein.
Und wie zuletzt das Beispiel Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen zeigt, muß man inzwischen gar nicht mehr wirklich gewinnen, man erklärt sich einfach zum Sieger (siehe USA). Da werden Wahlen sicher bald überflüssig sein. Gewonnen hat, wer das am lautesten verkündet. Da gewinnt der Begriff »Regierungserklärung« einen ganz neuen Inhalt. Noch sind zwar nicht ganz die Letzten die Ersten, aber dennoch gemahnt das alles an die Heilige Schrift, weil die (noch) sogenannten großen Volksparteien nach jedem (symbolischen) Schlag auf die eine Wange die andere mit solchem Eifer hinhalten, daß das Volk gar nicht so schnell ausholen kann, wie es zuschlagen möchte.