Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 22. November 2004, Heft 24

Aber in der Hilfsschule war er der Beste

von Ove Lieh

Kennen Sie diesen Satz? Also, ich schon. Er fiel mal, als wir uns unter Kumpels über einen, nun ja, Außenseiter unterhielten, der anders war als wir. Er wirkte halt ein bißchen unintelligent, aber nicht unsympathisch. Deshalb der Versuch der argumentativen Aufwertung mit der Zuordnung zur Hilfsschulelite. Wir waren halt Kinder damals. Und als wir etwas größer waren, ob klüger, bin ich nicht sicher, behaupteten wir, die DDR habe zwar noch dieses und jenes Problem, aber unter den sozialistischen Ländern sei sie das stärkste, dem es noch am besten gehe oder so ähnlich. Aber damals ist mir der Hilfsschüler noch nicht eingefallen. Es hätte wahrscheinlich auch nicht viel genützt.
Jetzt aber war die Geschichte plötzlich wieder da. Mir wurde nämlich fortwährend zur Kenntnis gebracht, daß mein derzeitiges Heimatland Thüringen zwar zumeist hoffnungslos hinter den altbundesrepublikanischen Standards zurückbleibt, aber »unter den neuen Ländern ist es das Beste«. Zwei Beispiele von vielen möglichen: Das monatliche Haushaltsbudget der Thüringer liegt bei netto 2303 Euro. Damit haben sie 468 Euro weniger als der Bundesdurchschnitt. Den Durchschnitt der alten Länder will man gar nicht wissen, wegen der Depressionsgefahr. Auch die genannten Zahlen reichen schon zum Jammern. Aber, die Thüringer können statistisch gesehen siebzig Euro mehr ausgeben als andere Ostdeutsche. Und: Thüringen hat die niedrigste Erwerbslosigkeit der neuen Länder: Quote 16,1 Prozent.
Besonders in Wahlkampfzeiten benutzen Thüringer Politiker solche Argumente. Ist schon putzig, wie nahe sie damit unserem kindlichen Denken sind! Wo es nicht in den Kram paßt, sich an der Spitze oder an bestimmten Ansprüchen zu orientieren, schaut man eben hinter sich und freut sich, daß da noch jemand ist. Da lassen wir doch mal alle Zwischenschritte weg und beurteilen unsere Lage im Vergleich mit den Elendsgebieten in Afrika, und siehe da, bei uns verhungern deutlich weniger Leute als dort! Und wie es aussieht, wird sich diese positive Beurteilung unserer Lage noch sehr lange halten können.
Aber mitten in meine Reflexionen platzt die Nachricht, daß Christoph Matschie, nachdem er im Frühsommer vor allem mangels Alternative knapp zum Chef der Landtagsfraktion gewählt wurde, mit 77,5 Prozent der Stimmen (ohne Gegenkandidaten!) wieder an die Spitze der Thüringer SPD gelangt ist.
Vielleicht ist er ja in Thüringen unter den sozialdemokratischen Funktionären der Beste.