Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 25. Oktober 2004, Heft 22

Pastorale?

von Marcus Crome

Am 12. März 1945 fand im Concordia-Saal in Leipzig ein Konzert mit dem Gewandhausorchester unter Stabführung von Hermann Abendroth statt. Gespielt wurde unter anderem die 6. Sinfonie F-Dur op. 68 von Ludwig van Beethoven, die unter dem Beinamen Pastorale bekannt ist.
Es existiert eine Aufnahme von jenem Konzert. Als ich diese zum ersten Mal hörte, war ich irritiert. Ich fand es irrwitzig, wie Abendroth dieses Werk mit dem Orchester musizierte. Eine langsamere, betulichere Interpretation allein der Ankunft auf dem Lande war mir vorher noch nie begegnet. Es ging weiter: die Szene am Bach – Beethoven schreibt Andante molto mosso vor, was spiegel-übersetzt heißt: gehend sehr bewegt. Doch hier ist nichts bewegt, schon gar nicht sehr.
Es wirkt auf den Hörer wie die Erinnerung an eine Szene am Bach, lange her und golden umrahmt. Und da – da sind doch tatsächlich eine Nachtigall und ein Kuckuck. Details, die sich kein Dirigent des zwanzigsten Jahrhunderts getraute, so plakativ herauszustellen, schon wegen Beethovens Diktum: »mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei«. Und dann das »lustige Zusammensein der Landleute«: Zart beginnend, entwickelt es sich doch noch zu einer deftigen Feier, aber immer wieder unterbrochen von eigentlich recht heiteren, kurzen Melodien, Melodiebruchstücken. Aber so zart, so wehmütig musiziert, daß man auch hier den Eindruck hat, man ist auf diesem Fest zwar körperlich anwesend, aber mit den Gedanken ganz woanders. In Erinnerungen an längst Vergangenes, irgendwie Schönes …
Gewitter. Sturm – einen brutaleren Einbruch der Naturgewalten habe ich in der Musik noch nie gehört, trotz Harnoncourt und anderer Vertreter der historischen Musizierpraxis, die auf Originalinstrumenten spielen und mitunter einen recht ruppigen Musizierstil pflegen. Es ist kein einfaches Gewitter, das hier ein nettes Dorffest unterbricht, währenddessen man im Dorfkrug weiterfeiert. Es ist ein Inferno, es sind die entfesselten Elemente selbst. Doch es beruhigt sich nicht, sondern hat nur an Kraft verloren, nicht die Gefährlichkeit. Eine Oboe durchbricht dieses unterschwellige Grummeln, das noch da ist, mit einer sehr zarten, aber doch letztlichen Entschiedenheit, die so entschieden nur sein kann, weil das, was sie spielt, so einfach ist, so schlicht. Jetzt existiert nur noch ein einziges Gefühl, ein Sehnen: Es muß heller werden. Eine unbewußte, aber vorhandene Gewißheit wird dann musiziert, die gar nicht plakativ werden kann, weil sie nur diesem Sehnen entspringt: Es wird heller.
Hier musiziert einer, ein ganzes Orchester, aus einer singulären historischen Situation heraus. Am 19. April wird Leipzig von den alliierten Truppen eingenommen. Am 12. März, als das Konzert stattfand, standen diese zwar noch am Rhein; aber es war klar, lange konnte es nicht mehr dauern. Es war eine Endzeitstimmung. Egal, wie man zu den Nazis
gestanden hatte, das Land war im Untergang begriffen. Keiner wußte, was kommt, was wird. All dieses klingt mit. Natürlich: Etliche der aufgeklärten Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts werden protestieren, das könne man doch gar nicht heraushören. Aber der empfindsame Mensch, und das sind und waren Musiker meistens, bleibt nicht unbeeinflußt von seiner Zeit und den Geschehnissen um ihn herum. Wenn er als Künstler arbeitet, bleibt auch seine Kunst nicht unbeeinflußt, dann fließt all dies in seine Kunst mit ein.
Ähnlich ein anderer Konzertmitschnitt: Wilhelm Furtwängler dirigierte am 31. Oktober 1943 in Berlin die 7. Sinfonie A-dur op. 92 von Beethoven. Im zweiten Satz, der eigentlich ein Ruhepol inmitten dieser »Apotheose des Tanzes« sein soll, kommt eine Trauer zum Klingen, die so tief, ja schwer ist, daß sie nur aus einer Trauer um den Untergang gespeist sein kann. Auch Furtwängler, der bis zum Schluß dafür sorgte, daß jüdische Musiker bei den Philharmonikern mitspielten, ging es nicht um die Nazis. Es ist seine Vorstellung von Deutschland, jener Idee des Landes der »Dichter und Denker«, die im Begriff war unterzugehen, nachdem sie zehn Jahre pervertiert worden war. Und so wird jener Ruhepol, jenes Innehalten, zu einem Trauermarsch von erschütternder Größe.
Im dritten Satz, der an der Stelle des Scherzos steht, und der Furtwängler zu einem sich fast überschlagenden Furioso gerät, gibt es auch ein Innehalten im Tempo, das bei ihm aber nicht nur jenes gravitätische Schreiten ist, das man auch bei jedem anderen Dirigenten hört, sondern auf dem Höhepunkt dessen wird aus dem Sehnsüchtigen, fast Flehen ein nahezu existentieller Aufschrei. Fast so, als wäre ihm das geschäftige Getriebe der Welt, das im schnellen Teil des Presto-Satzes erklingen zu hören man vermeint, sinnlos und zuwider. Und der vierte Satz will mit seinem Getümmel nur noch zum Ende kommen. Es ist nichts Fröhliches mehr darin, keine Zuversicht, welche Beethoven-Finali eigentlich ausmachen.
Diese Mitschnitte mit ihrem »Pathos«, das aus einer ganz eigenen Gefühlslage entstand, strahlen eine geradezu erschütternde Ehrlichkeit aus, besonders im Vergleich zu den meisten heutigen, glattgeleckten und damit beliebigen Interpretationen klassischer Musik.
Ende September hörte ich den US-amerikanischen Dirigent Steven Sloane, der mit dem Berliner Sinfonie-Orchester an drei Abenden ebenfalls die 7. Sinfonie von Beethoven aufführte. Sloane hat Jahre seines künstlerischen Lebens in Israel zugebracht, in Deutschland gearbeitet und spielt eine interessante Rolle im Musikleben der USA; von der papiernen Vita her eher eine Jet-Set-Existenz. Doch seine Interpretation erinnerte mich in vielem an jene Furtwänglers. Bei diesem Gedanken schreckte ich auf.

Beethoven: Sinfonien Nr. 6 (Dirigent: Abendroth) & 5 (Dirigent: Furtwängler) erschienen bei Dureco (Frankreich) // Beethoven: Sinfonie Nr. 7 (Dirigent: Furtwängler) & Haydn: Sinfonie Nr. 104 »Londoner« (Dirigent: Furtwängler) erschienen bei RCD.