Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 11. Oktober 2004, Heft 21

Ent-Täuschungen

von Martin Nicklaus

Kaum hatte Horst Köhler Argentinien verheizt, stieg er vom unheiligen Weltenlenkerthron IWF uns aufs Dach. Nun will er seinen Kampf für die verschärfte Ungleichheit unter den Menschen in Deutschland als Merkelpräsident fortsetzten. Nur, daß hier sein Wort, wenn auch das Letzte, so doch nicht mehr verbindlich ist. Wir sollen uns von der Vorstellung verabschieden, es könne gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West geben. Sollen wir uns also auch vom Grundgesetz verabschieden? Oder will der Präsident im Chor mit den Mauerwiederhabenwollern die Einheit als gescheitert erklären? Na ja, kommt drauf an, was erwartet worden war … Immerhin sollten wir nicht vergessen, daß die Architekten des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik 1990 in ihrer Selbstverliebtheit darauf verzichteten, dem neuen Werk ein Fundament zu geben. Unter der Parole »Keine sozialistischen Experimente« wurde plan- und herzlos ein wirtschafts- und sozialpolitisches Abenteuer der Sonderklasse gestartet. Der kalte Krieg endete wie ein warmer, mit Landnahme der Sieger und Eigentumstransfair von Ost nach West. Kolonisationsoffiziere reglementierten den angeschlossenen Teil – die, damit gleich klar war, wo ihr Wirkungskreis lag, Buschzulage erhielten.
Im Troß der Offiziere fielen reichlich Raubritter, Goldgräber und Scharlatane in die neuen Territorien ein, die den Eingeborenen, wo sie konnten, das Fell über die Ohren zogen und jede öffentliche Kasse, die nicht niet- und nagelfest war, plünderten. Den Eingewanderten stellten sich die einheimischen Bauernschlauen, deren Ikone Günther Krause wurde, an die Seite. Nichts charakterisiert die Geldverschwendung, das Beutereißen besser, als die Bilanz der Treuhand unter ihrer Kommandeuse Breuel, der es gelang, ein Plus von einigen hundert Milliarden Mark in einen volkswirtschaftlichen Schaden – in ein Minus zu Lasten der Steuerzahler von ähnlicher Größe – zu verwandeln.
Was im Osten wirklich entstand, waren weitestgehend Potemkinsche Dörfer und Städte. Sanierte Ortskerne, aber ohne jede wirtschaftliche Infrastruktur und damit menschenleer. Manchmal entstand nicht mal das. Ein schönes Beispiel dafür ist der 300-Seelen-Ort Klein Schulzendorf bei Berlin: 18 Millionen Mark für zwei schmale Straßen über einen Acker … Für all das steht der Begriff der Vereinigungskriminalität.
Heute sind weite Teile der Neuen Länder (ein Kolonistenbegriff wie Neue Welt) gemäß dem Versprechen von blühenden Landschaften entindustrialisiert, die Entvölkerung und der Abriß der Städte laufen derzeit noch. Während blinde und taube, aber leider nicht stumme Politiker die Einrichtung einer wirtschaftlichen Sonderzone fordern, ist die längst entstanden: Tarife und Mindestlohngesetzte gelten einen Dreck, die Arbeitslosigkeit ist wesentlich höher, das Lohnniveau dafür geringer als in Westdeutschland. Nur die Preise bei Ikea und Quelle sind überall gleich. Zugegeben: Die Degradierung in die Zweitklassigkeit, diese Verlogenheit auf Politbüro-Niveau, hatte der Ostler 1990 nicht erwartet. Doch mag »der Westen« an vielem Schuld sein, für diese Naivität ist er nun wahrlich nicht verantwortlich.