Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 11. Oktober 2004, Heft 21

Eine Nation? Was für eine Nation?

von Uri Avnery, Tel Aviv

Jede Person in Israel ist im Innenministerium im Einwohnerverzeichnis registriert. Das Verzeichnis schließt den Punkt »Nation« ein. Dieser Punkt erscheint auch auf der Identitätskarte, die jede Person in Israel immer bei sich tragen muß. Oder sie riskiert eine strafrechtliche Verfolgung.
Das Innenministerium hat eine Liste von 140 anerkannten Nationen, die der Beamte registrieren kann. Es handelt sich dabei nicht nur um etablierte Nationen (wie »russisch«, »deutsch«, »französisch« und so weiter) sondern auch um »christlich«, »muslimisch«, »drusisch« und andere. Die »Nation« des arabischen Bürgers in Israel kann zum Beispiel als »arabisch«, »christlich«, »katholisch«, – aber nicht als »palästinensisch« – registriert sein. Das Innenministerium weiß nichts von der Existenz einer solchen Nation.
Die meisten israelischen Einwohner tragen eine Identitätskarte bei sich, auf der natürlich unter »Nation« »jüdisch« steht. Dies wurde nun zum Thema einer Debatte. Eine Gruppe von 38 Israelis hat beantragt, die Eintragung »jüdisch« zu streichen und durch »israelisch« zu ersetzen. Das Innenministerium weigerte sich und behauptete, daß solch eine Nation nicht auf seiner Liste erscheine. Diese Gruppe hat beim Obersten Zivilgericht einen Antrag gestellt und darum gebeten, das Innenministerium zu informieren, man möge sie, da sie sich zur »israelischen« Nation gehörig fühlen, auch als solche registrieren. In dieser Woche kam dieser Fall vor Gericht.
Zu diesen 38 gehören einige der berühmtesten Professoren Israels (Historiker, Philosophen, Soziologen und dergleichen), bekannte öffentliche Persönlichkeiten (einschließlich meiner Wenigkeit). Einer der Initiatoren ist ein Druse. Sie gehören keineswegs zu einem politischen Lager – die Gruppe schließt tatsächlich Leute vom linken und rechten Lager ein. Einer von ihnen ist Benny Peled, ein kürzlich verstorbener früherer Kommandant der Luftwaffe – er stand sehr weit rechts.
Das Oberste Gericht, in seiner Funktion als Oberes Zivilgericht, behandelte den Fall wie eine heiße Kartoffel. (Selbst wenn der Richter Mishal Cheshin sich darüber freute, im Verzeichnis des Ministeriums die »Assyrische« Nation zu finden – in der Tat eine sehr kleine religiöse Gemeinschaft – ein Rest aus der Antike, der noch einen aramäischen Dialekt spricht)
Warum weigert sich die israelische Regierung, die israelische Nation anzuerkennen? Nach ihrer offiziellen Doktrin gibt es eine »jüdische« Nation, und der Staat gehört ihr. Es ist doch ein »jüdischer« Staat oder mit den Worten eines der Gesetze: »Es ist der Staat des jüdischen Volkes.« Nach derselben Doktrin ist es auch ein demokratischer Staat, und alle seine Bürger werden als gleichberechtigt angesehen, ungeachtet ihrer nationalen Zugehörigkeit. Aber grundsätzlich ist der Staat »jüdisch«.
Nach dieser Doktrin ist das Judentum beides: eine Nation und eine Religion. In den ersten Jahren Israels war es üblich, wenn jemand – bona fide – erklärte, daß er oder sie jüdisch sei, er oder sie als solche registriert wurden. Aber als das religiöse Lager mehr Macht erhielt, wurde das Gesetz verändert: Von da an wurde eine Person nur dann unter »Nation: jüdisch« registriert, wenn sie eine jüdische Mutter hatte oder sie zum jüdischen Glauben konvertiert war und keine andere Religion hatte. Dies ist natürlich eine rein religiöse Definition.
Diese Situation hat ein anderes Problem geschaffen. In Israel erfreut sich das orthodoxe Rabbinat eines totalen Monopols, was jüdisch-religiöse Angelegenheiten betrifft. Zwei andere jüdisch-religiöse Fraktionen, die in den USA sehr wichtig sind, die konservative und die reformierte, werden in Israel diskriminiert, und bei ihnen durchgeführte Konversionen werden von der Regierung nicht anerkannt. Vor ein paar Jahren entschied der Oberste Gerichtshof, daß Personen, die in diesen beiden Gemeinschaften in Israel konvertiert seien, unter »Nation« auch als »jüdisch« registriert werden müssen. Daraufhin entschied der damalige Innenminister, ein religiöser Politiker, einfach, daß in Zukunft solche Identitätskarten unter dem Punkt »Nation« nur fünf Sterne zeigen. Aber im Einwohnerverzeichnis des Ministeriums steht noch immer als »Nation: jüdisch«.
Die Ursprünge dieses Durcheinanders gehen bis in die Anfänge der zionistischen Bewegung zurück. Bis dahin waren Juden in aller Welt eine religiös-ethnische Gemeinschaft gewesen. Das war für das damalige Europa anomal, aber vor zweitausend Jahren ganz normal, als solche Gemeinschaften – griechisch, jüdisch, christlich und andere – die Norm waren. Im byzantinischen Reich war jede autonom und hatte ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Gerichtsbarkeit. Als sich aber in Europa die modernen Nationalbewegungen entwickelten und es so aussah, daß die Juden in ihnen keinen Platz hätten, entschieden die Gründer der zionistischen Bewegung, daß sich die Juden als unabhängige Nation konstituieren und einen eigenen Staat gründen sollten. Die religiös-ethnische Gemeinschaft wurde einfach als Nation umdefiniert, und so kam eine Nation zustande, die gleichzeitig eine Religion war – und eine Religion, die auch eine Nation war.
Das war natürlich eine Fiktion, aber eine für den Zionismus notwendige: Er beanspruchte Palästina für die jüdische »Nation«. Um einen nationalen Kampf zu führen, mußte es eine Nation geben.
Zwei Generationen später jedoch wurde die Fiktion Realität. In Palästina entwickelte sich eine wirkliche Nation mit nationaler Wirklichkeit und nationaler Kultur. Die Mitglieder dieser Nation betrachteten sich selbst natürlich als Juden, aber als Juden, die in vielen Hinsichten anders als Juden außerhalb dieser Region waren.
Vor der Gründung des Staates Israel machte man in der alltäglichen Ausdrucksweise – ohne daß irgend jemand dies entschieden hatte – einen Unterschied zwischen »hebräisch« und »jüdisch«. Man sprach vom »hebräischen« Yishuv (die neue Gesellschaft in Palästina) und der »jüdischen Religion«, von der »hebräischen Landwirtschaft« und der »jüdischen Tradition«, von »hebräischen Arbeitern« und der »jüdischen Diaspora«, vom »hebräischen Untergrund« und dem »jüdischen« Holocaust. Als ich noch ein Junge war, demonstrierten wir für jüdische Einwanderung und einen hebräischen Staat.
Als Israel zum Staat geworden war, wurden die Dinge einfacher. Jeder Israeli, der im Ausland nach seiner Staatszugehörigkeit gefragt wird, antwortet automatisch: »Ich bin ein Israeli.« Es kommt ihm gar nicht in den Sinn zu sagen: »Ich bin Jude«; es sei denn, er wird nach seiner Religion gefragt.
Für viele Leute in Israel ist es schwierig, die zionistischen Mythen, mit denen sie aufgewachsen sind, aufzugeben. Sie versuchen, jeder Diskussion darüber auszuweichen – und tatsächlich wird dies in unseren Medien kaum erwähnt. Eine Absicht unserer Petition ist es deshalb, eine derartige Debatte zu provozieren. Vor mehr als zweitausend Jahren befand sich der Prophet Jonas auf einem Schiff, das im Sturm unterzugehen drohte. Die verängstigten Matrosen suchten nach dem Schuldigen und fragten ihn (Jona 1,8): »… aus welchem Lande bist du und von welchem Volke bist du?« Jona antwortete ihnen: »Ich bin ein Hebräer!«
Als Antwort auf diese Frage erklären wir: »Wir sind Israelis!«

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs