von M. R. Richter, Kiew
Für den 31. Oktober 2004 sind die Ukrainer zur Wahl des Staatspräsidenten aufgerufen – zum ersten Wahlgang, denn kaum einer zweifelt daran, daß eine Stichwahl erforderlich werden wird. Da die Ukraine eine Präsidialrepublik ist, in welcher der Präsident erhebliche Vollmachten besitzt, vergleichbar mit den Staatsformen in Frankreich oder in Rußland, kommt dieser Wahl erhebliche Bedeutung zu – ja, sie wird zur Richtungswahl. Der derzeitige Präsident Kutschma, welcher bereits zwei Amtsperioden regiert, kann gemäß der Verfassung nicht wieder antreten.
26 Kandidaten haben sich bei der Zentralen Wahlkommission registrieren lassen. Diese Anzahl ist selbst für ukrainische Verhältnisse ungewöhnlich, hatte man doch geglaubt, bei der vorigen Wahl mit zwanzig Kandidaten bereits einen Langzeitrekord aufgestellt zu haben. Die hohe Zahl der Bewerber um den höchsten Posten im Lande ist einerseits ein Ausdruck des in der Tradition des freien Kosakentums stehenden Nationalcharakters, anderseits aber auch Ergebnis eines wahltaktischen Kalküls, nämlich der Aufstellung von »Zählkandidaten«.
Die Hauptakteure und wahrscheinlichen Kontrahenten im zweiten Wahlgang sind der gegenwärtige Premier Janukovitsch und Justschenko, einer seiner Vorgänger im Amt. Janukovitsch steht für ein breites Mitte-Links-Bündnis, welches von den Sozialdemokraten bis hin zu Unternehmerverbänden reicht. Sein Programm ist auf Kontinuität in der ukrainischen Politik ausgerichtet. Er ist der Vertreter der ostukrainischen Wirtschaftsbosse, seine Politik beruht auf der Hoffnung, einen Ausgleich zwischen Rußland und dem Westen, allen voran den USA, zu finden und zwischen diesen beiden Mächten sein Land hindurchzumanövrieren.
Justschenko dagegen gilt als Führer eines gemäßigten rechtsnationalistischen Bündnisses mit klarer Ausrichtung auf die USA. Er vertritt west- und südwestukrainische Wirtschaftsclans und verfügt durch seine Ehefrau – einer früher im Washingtoner Auslandsgeheimdienst tätigen US-Amerikanerin – über gute Kontakte zum nordamerikanischen Establishment. Seine jüngsten Äußerungen lassen allerdings erkennen, daß er sich bewußt ist, nicht frontal gegen russische Interessen agieren zu können.
Die linken Kräfte sind traditionell zersplittert. Natalja Witrenko von den Unabhängigen Sozialisten propagiert die Wiederherstellung der Sowjetunion, und der Kommunist Simonenko (bei den vorigen Wahlen übrigens bis in die Stichwahl gekommen) möchte in der Ukraine einen von den Fehlern des Stalinismus gereinigten Sozialismus errichten, währenddem der Sozialist Moroz so etwas wie eine soziale Marktwirtschaft ansteuert. Die Kommunisten bemühten sich erfolglos um eine Zusammenarbeit mit den Sozialisten, Simonenko bot für den Fall seines Wahlsieges Moroz sogar den Posten des Premiers an. Doch die Widersprüche und persönlichen Animositäten sind zu groß, um ein gemeinsames Vorgehen zu ermöglichen. Die äußerste Rechte tritt ebenfalls mit mehreren Kandidaten zur Wahl an. Alle stehen sie in der Tradition der Nationalisten Petljura und Bandera, treten militant antisemitisch auf und sehen den Hauptfeind in den »Moskowitern«, im Lande und außerhalb.
Alle Wahlumfragen sind sich darin einig, daß die Rechtsextremen in der Summe nicht wesentlich über zehn Prozent der Wählerstimmen kommen werden, währenddem die Linken vielleicht 20 bis 25 erreichen könnten. Sicher allerdings dürfte sein, daß keine der beiden Richtungen einen Kandidaten für die Stichwahl stellen wird.
Justschenko hat sich, in der Ukraine möglich, selbst als Kandidat für das Präsidentenamt aufgestellt. Damit umging er die Anbindung an eine politische Gruppierung. Der Grund hierfür ist wohl, daß sich aus dem von ihm angeführten Block Unsere Ukraine gleich mehrere Kandidaten meldeten. Getrennt marschieren, gemeinsam schlagen – scheint die Devise zu sein. Überraschenderweise hat Julia Timoschenko auf eine Kandidatur verzichtet, dafür ließ sie sich aber von Justschenko für den Fall, der der Präsident wird, als Lohn für die Unterstützung seitens ihres Blocks Julia Timoschenko den Posten eines Premierministerns versprechen. Von ihr hätte die gegenwärtige ukrainische Führung nichts Gutes zu
erwarten. Ganz oben auf ihrem Programm steht die Strafverfolgung des gegenwärtigen Präsidenten. Sie sprüht vor Rachegelüsten, sitzt doch ihr Ehemann und der Großteil des Familienclans wegen unlauterer Machenschaften im Zusammenhang mit der Vermarktung des ukrainischen Energiesystems noch immer hinter Gittern. Justschenko selbst befürwortet eine Eingliederung der Ukraine in NATO und EU, obwohl beide Organisationen der Ukraine auch in diesem Jahr die kalte Schulter gezeigt haben. Sein Ziel ist es, die Ukraine zur Speerspitze westlicher Interessen im europäischen Osten auszubauen. Neben den Exil-Ukrainern in den USA stehen ihm bürgerliche Parteien Polens nahe, die der Ausweitung der NATO und der EU bis über Kiew hinaus das Wort reden und im Prinzip von der Wiedererrichtung eines Großpolens träumen.
Kandidat Janukovitsch wiederum steht für eine Fortsetzung der Kutschma-Politik, einer Politik des Lavierens zwischen Moskau und Washington. Sich keinem verpflichten, aber von allen umworben zu werden, ist ihr Bestreben. Allerdings wird sichtbar, daß man sich damit auch zwischen alle Stühlen setzen kann. Zumindest sind derzeit verstärkte Kontaktversuche russischer Emissionäre ins Justschenko-Lager zu beobachten.
Die beiden Hauptkandidaten trennen gegenwärtig nur wenige Prozente. Anfang September sollen sich in einer Umfrage 38 Prozent für Justschenko und 33 Prozent für Janukovitsch als neuen Präsidenten ausgesprochen haben. Nichts Genaues weiß man nicht, denn anderen Umfragen zufolge soll sich Janukovitsch im Aufwind befinden, zumal die Regierung in den vergangenen Wochen soziale Wohltaten verteilte (zum Beispiel durch die Erhöhung der Stipendien und der Renten). Auch seine Wirtschaftspolitik wird als erfolgreich dargestellt: Das ukrainische Bruttosozialprodukt stieg in diesem Jahr um mehr als zwölf Prozent.
Zu den Wahlen werden über eintausend internationale Beobachter erwartet. Und Julia Timoschenko befürchtet Straßenkämpfe (siehe Belgrad und Tiflis …?) für den Fall eines nicht »erwartungsgemäßen Wahlausgangs«; in speziellen Gruppen, will der Kiewer Polit-Buschfunk wissen, bereite sie ihre Anhänger auf eine solche Situation vor.
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