von Frank Hanisch
Wenige Kilometer von Bitterfeld entfernt, auf einer Landbrücke zwischen zwei gefluteten ehemaligen Tagebaurestlöchern gelegen, befindet sich um einen Anger gruppiert das Buchdorf Mühlbeck, in dem – wahrscheinlich – mehr Antiquare als Landwirte wohnen. In einem dieser Antiquariate mit einem großen Bestand an DDR-Literatur fiel mir ein Reclamband mit dem Titel Kopfbahnhof von 2001 in die Hände. DDR-Dichter beschäftigten sich, ungehindert durch stalinistische Zensur, mit den Auswirkungen der Umweltzerstörung in der DDR. Aus der zeitlichen Distanz von dreizehn Jahren schon fast fremdartig wirkend, berührte sich das Pathos der DDR-Intellektuellen nach Wiedervereinigung und entschwundenem SED-System mit dem der westdeutschen Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung.
Mit allen Sinnen wahrnehmbare Umweltzerstörung geschah seinerzeit: die aus den Schornsteinen veralteter Betriebe ausgestoßenen Wolken, aus denen dann saurer Regen zur Erde kam und die Nadeln der Lausitzer Kiefern und der Fichten des Erzgebirges braun färbten; die Schaumkronen auf den in stinkende Kloaken verwandelten Flüssen. Und nicht zuletzt die Orte im Belagerungszustand wie Leipzig, Borna, Bitterfeld, Zeitz, Gräfenhainichen – belagert durch die immer näher rückenden Braunkohlentagebaue, in denen die Reste der immer minderwertigeren Kohle herausgeschaufelt wurden. Bitterfeld in Mitteldeutschland galt als Herz der Finsternis.
Die Braunkohle und deren Auswirkungen auf Alltag und Umwelt bilden einen nicht unwichtigen Teil der Erinnerungslandschaft Ostdeutschlands: die schwarzen Putz- und Sandsteinfassaden, die durch sauren Regen angefressenen Sandsteinmauern, der beißende Geruch der Ofenheizungen im Winter, die Briketthaufen, die von Städtern nach der Arbeit mit Eimern in die Keller getragen wurden, die halbe Schulhöfe ausfüllenden Berge krümeliger Kohle, die eine dicke schmierige Schicht hinterließ. »Bessere Blumenerde« wurde das, was der Erde entrissen wurde, von den Kumpels genannt. Der Kohleveredlung waren wichtige Chemieschulstunden gewidmet. Im anatomischen Museum zu Wien wird eine schwarze Lunge gezeigt, voll kleinster Kohlenstaubpartikel. Ein unangenehmer Anblick, doch glücklicherweise recht harmlos. Damals verkündete ich mit den Erfahrungen eines Medizinstudenten im Obduktionssaal der verdutzten Führerin, daß die Lunge eines jeden Ostdeutschen früher oder später so ausgeschaut hätte.
Mit einem Mal war dann all das eingangs Beschriebene verschwunden, war es zu Geschichte geronnen. Eigentlich ist es unvorstellbar: Eine Produktionsform hat mindestens fünf Generationen lang die Existenz der Menschen bestimmt, durch Lärm und Ruß und Schornsteine und Mondlandschaften, und all das brach innerhalb von nur fünf Jahren fast vollständig weg. Irgendwann um die Jahrtausendwende überwogen schließlich die sanierten hellen pastellfarbenen Häuser, kannte man kaum noch jemanden, der einen Ofen mit Kohle heizte, war die letzte Kellerkohle verschenkt. Hausstaubmilben, Tierepithelien und Lebensmittelzusätze sind bei mitteldeutschen Kindern nun die Ursache Nummer eins für Asthma und nicht mehr Schwefeldioxyddämpfe.
Wenn eine Situation hoffnungslos erscheint, werden Parallelwelten erfunden, um die Existenz mit Sinn zu füllen und die Welt verständlich zu gestalten. Solche auf den ersten Blick unvereinbaren Bilder stehen sich in der deutschlandweiten, medial geprägten Wahrnehmung der Region Bitterfeld gegenüber: Einerseits wurde das Image der alles verschlingenden Industrielandschaft durch das Negativ-Image einer Region ohne Arbeit und Zukunft ersetzt. Im Raum Merseburg-Halle-Bitterfeld erreicht die Arbeitslosenstatistik immer noch bis zu 25 Prozent! Doch im Kampf der Bilder rückt seit der Expo 2000 und der Elbeflut 2002 ein anderes Bild in den Vordergrund: das der Rekultivierungslandschaften und Biosphärenreservate.
In Bitterfeld und Umgebung wird die Vergangenheit inszeniert (Ferropolis – Stadt aus Stahl, Findlingsgarten Gröbern) und wiederentdeckt (der Dichter evangelischer Kirchenlieder Paul Gerhardt) und eine Zukunft (Rekultivierung von Tagebauflächen) gesucht. Musealisierung und Ökologisierung statt Industrialisierung und Ideologisierung.
Bitterfeld ging Mitte des 19. Jahrhunderts, als die ersten Kohlengruben entstanden, mit 4000 Einwohnern in die industrielle Revolution. Aktuell leben 16000 Menschen in Bitterfeld. Bleibt die Deindustrialisierung bestehen, und alles deutet darauf, wird die Bevölkerung noch eine Generation lang kräftig schrumpfen. Orte wie Bitterfeld oder Gräfenhainichen wirken im vierzehnten Jahr nach der Wiedervereinigung dennoch intakt mit ihren mittelalterlich überschaubaren Stadtkernen, den zwiebelschalenartigen Anlagen aus Mietshäusern der Gründerzeit, den Werkssiedlungen und Wohnparks. Kein Verfall, kein offenkundiges Elend auf den Straßen. Eine Rückentwicklung zu Ackerbürgerstädtchen wird es wohl nicht mehr geben, doch wird rudimentäres lokales Handwerk dominieren statt Industrie oder Mittelstand. Die 52000 Kumpel, die in den Hochzeiten Kohle in Mitteldeutschland abgebaut haben, sind Geschichte, die Bagger Bühnenstaffage in Ferropolis, das Anfang des 20. Jahrhunderts gebaute Kraftwerk Zschornewitz Industriemuseum. Stattdessen entstehen Seen mit Stränden, Fahrradwege, Wanderwege … Die Region liegt schließlich zwischen den Großstädten Halle, Leipzig und Berlin.
Die Region wirkt attraktiver als je zuvor. 1984 schrieb Erich Loest über die Braunkohleregion um Leipzig: »Um die Jahrhundertwende begann der Angriff, in den kommenden Jahren wird er sich zum Trommelfeuer steigern. In fünfzig Jahren ist vermutlich alles vorbei, eine niedliche Hügellandschaft mit Wäldchen und Seen (…). Wer möchte da nicht Enkel sein.« Wohl wahr.
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