von Ines Fritz
Seit 1999 streitet sich Horst Lucht mit den Behörden. Er ist nervlich und finanziell am Ende, sagt er. Aber er macht weiter. Er muß weitermachen.
Rückblende: 1982 werden bei Frau Brandt, Horsts Mutter, eine endogene Psychose, Paranoia und Altersdemenz festgestellt. Sie wird vom Sozialamt Kassel in das Alten- und Pflegeheim »Haus Emmaus« nach Fulda eingewiesen. Die Unterbringung wird durch den Amtsarzt gefordert und als dauerhaft bezeichnet. Selbstverständlich werden die Kosten übernommen. Am 1. Juli 1996 wird das Pflegeversicherungsgesetz eingeführt, und Frau Brandt bekommt vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen die Pflegestufe »0« bescheinigt. Das heißt, sie bekommt kein Pflegegeld, da der pflegerische Betreuungsbedarf unter den geforderten neunzig Minuten täglich liegt. Wie Frau Brandt geht es vielen alten psychisch Kranken.
Die Stadt Kassel entscheidet, daß Frau Brandt weiter im Heim verbleiben darf, und zahlt die Kosten aus Sozialhilfemitteln. 1999 dann die Wende: Das Sozialamt Kassel versucht im Rahmen einer Unterhaltsklage, die Verpflichtung des Sohnes zur Zahlung der Unterbringungskosten zu erwirken. Die Unterhaltsklage geht für das Sozialamt verloren. Zum 1. September 1999 werden die Zahlungen für Frau Brandt trotzdem eingestellt: Frau Brandt ist nun gesund, sagt Kassel. Ärztliche Gutachten sprechen dagegen. Unabhängige Gutachter bestätigen den Pflegebedarf, dringen auf Heimunterbringung. Aber das spielt für das Sozialamt Kassel keine Rolle: Frau Brandt ist ab sofort gesund und dabei bleibt es! Eine Amtsärztliche Untersuchung unterbleibt: Wir sind nicht zuständig. Frau Brandt ist gesund.
»Wer nicht zahlt, der fliegt!«, legt das Heim fest und kündigt den Betreuungsplatz der Frau Brandt. In zähen Verhandlungen erwirkt der Sohn der Frau Brandt, daß sie bleiben darf – vorerst –, und er bezahlt und bezahlt und bezahlt – mühsam und aus eigener Tasche. Obwohl Frau Brandt einen Anspruch auf Sozialhilfe hat, verweigert man ihr die Leistung. Horst Lucht zahlt weiter, obwohl er nicht kann und auch nicht muß. Zahlt dafür, daß man seine Mutter betreut, daß man sie pflegt und daß man sie am Leben läßt. Und er zahlt, weil ein Sozialamt wieder Kosten spart: Wie so oft in Deutschland. Er bezahlt auch für seine Naivität, an einen Sozialstaat zu glauben. Wieder einer, der zum Verzicht gezwungen wurde.
Und es funktioniert: Man schätzt, daß 63,1 Prozent der tatsächlichen Ausgaben der Sozialhilfe durch »Verzicht« eingespart werden können. Sozialhilfemittel werden verweigert, wo sie am nötigsten sind. Die Durchsetzung der Ansprüche scheitert an Gebühren und Zuständigkeiten. Kaum ein Anwalt ist bereit, sich mit arbeitsintensiven und wenig kostenträchtigen Sozialhilfemandaten auseinanderzusetzen. Man steht als Betroffener allein gegen eine Schar von Sachbearbeitern und Amtsschimmeln: austauschbar, meinungskonform, massenhaft. Zielgerichteter Sozialhilfebetrug durch Amtsträger.
Erna Brandt ist jetzt 79 Jahre alt. Sie lebt seit 22 Jahren im Pflegeheim. Sie denkt, man wolle sie umbringen. Sie weiß auch nicht mehr, wie es draußen ist. Ihr Sohn besucht sie regelmäßig und kämpft um ihre Rechte. Er bezahlt seine Steuern und weiß nicht mehr wofür. Der organisierte Unsinn der nicht-gesteigerten Unterhaltspflicht stört überall und verkompliziert menschliche Beziehungen. Dabei beruht sie auf einem idealisierten Bild der Großfamilie, das rechtlich dem 19. Jahrhundert entstammt, ideologisch dem Mittelalter. Die heutigen Familie von Arbeitern und Angestellten werden wie die bäuerliche Unterhaltsgemeinschaft des 15. Jahrhunderts behandelt. Heute ist die Arbeitskraft des Einzelnen die Existenzgrundlage für die meisten Menschen. Die Familien sind in der Regel keine Wirtschaftseinheiten mehr, in denen mehrere Generationen zusammen leben. Die Vereinzelung der Familienmitglieder ist größer als je zuvor. Deshalb ist auch die Bereitschaft, die überholten Regeln der früheren ökonomischen Verhältnisse anzuerkennen, geringer geworden. Eine Unterhaltssorge kann nur familiär sinnvoll sein, wenn sie auf freiwilliger Basis beruht. In den angloamerikanischen und skandinavischen Ländern sowie in den Niederlanden gibt es eine solche Unterhaltsverpflichtung zwischen volljährigen Kindern und ihren Eltern nicht.
Horst ist am Ende, sagt er. Vor kurzem ist seine Frau an Krebs gestorben, und das warf ihn aus der Bahn. Wenn er doch nur das mit seiner Mutter geregelt bekäme, dann könnte er wenigstens trauern. So aber steht er vor dem Ruin, nicht nur finanziell. Er will sich nicht abfinden: Immerhin sei die Würde des Menschen unantastbar. Auch die seiner Mutter und seine eigene. Und es hört sich so an, als glaube er daran. Demnächst wird er bei »Fliege« sprechen dürfen, einem Pfarrer, der willige ARD-Zöglinge zur besten Talkshowzeit apostelt. Neben Horst spricht eine weitere Betroffene, die für ihre Mutter zahlen soll, die sie dreißig Jahre nicht sah. Horst hofft, daß er so zu seinem Recht kommt. Ich hoffe das auch.
Schlagwörter: Ines Fritz