Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 30. August 2004, Heft 18

Wenn Amerika niest …

von Uri Avnery, Tel Aviv

Zu Levi Eshkol, einem unserer verstorbenen Ministerpräsidenten, eilte einmal einer seiner Assistenten und rief: »Levi, eine Katastrophe! Eine Dürre ist ausgebrochen!« »Wo?« fragte der Ministerpräsident beunruhigt, »in Texas?« »Nein, in Israel!« antwortete der Mann. »Dann brauchen wir uns ja keine Sorgen machen,« soll Eshkol erleichtert gesagt haben …
Von Anfang an haben sich Ereignisse in den USA stark auf den Staat Israel ausgewirkt. »Wenn Amerika niest – dann erkältet sich Israel«, lautet die lokale Version eines weltweit bekannten Sprichwortes. Dies trifft besonders vor Wahlen in den USA zu. Sie können für Israel so wichtig wie die eigenen Wahlen sein, da der Bewohner des Weißen Hauses das Schicksal Israels auf verschiedene Weise entscheidend zu beeinflussen vermag. Sie haben aber auch noch eine andere Bedeutung: Die Monate vor den US-Wahlen sind in Israel eine Art »Jagdsaison«.
Man nimmt an, daß kein Kandidat für das Weiße Haus es wagen würde, amerikanisch-jüdische Wähler in Wahlzeiten zu provozieren. Sie sind eine außerordentlich gut organisierte und politisch hochmotivierte Gruppe, die bereit ist, eine Menge Geld zu spenden – was ihnen große politische Macht verleiht, die weit über ihre Zahl hinausgeht. In Wirklichkeit leben jetzt mehr Muslime als Juden in den USA. Aber sie sind nicht organisiert, wenig motiviert, und ihre Bereitschaft, große Summen an Geld auszugeben, ist nahezu Null. Ihr Engagement zum Beispiel für die palästinensische Sache kann nicht mit der großen Loyalität der Juden gegenüber Israel verglichen werden. Hinzu kommt, daß Israel jetzt auch von etwa fünfzig Millionen christlicher Fundamentalisten unterstützt wird.
Die israelischen Regierungen legen ihre umstrittensten Maßnahmen natürlich so, daß sie zeitlich mit den US-Wahlen zusammentreffen. Je kleiner die Kluft zwischen den Kandidaten ist, um so attraktiver werden die Wahlen für israelische Planer und Abenteurer. Im Mai 1948, als sich Harry Trumans Wiederwahlkampagne in einer kritischen Phase befand, erklärte der Staat Israel einseitig seine Unabhängigkeit. David Ben Gurion entschied gegen den Rat einiger seiner Kollegen, die ihn warnten, daß sich die USA mit aller Macht gegen die Entscheidung stellen würden. Er aber setzte auf die Unfähigkeit des amerikanischen Systems, genau dies während einer Wahlkampagne tun zu können. In jener Zeit war Trumans Wahlkampagne in größten Geldnöten. Einige jüdische Millionäre halfen ihm aus. Aus Dankbarkeit und gegen den ausdrücklichen Rat seines Außenministers George Marshall und besonders seines Verteidigungsministers James Forrestal gab er dem neuen Staat sofort die de-facto-Anerkennung. Stalin übertrumpfte ihn und erkannte Israel de jure an.
Seitdem ist dies ein Muster, das sich immer wieder wiederholt. Die israelische Regierung gab 1967 den Befehl zum Angriff – und begann so den Sechs-Tage Krieg, nachdem sie ein o.k. vom Präsidenten Lyndon B. Johnson erhalten hatte, der zu diesem Zeitpunkt hoffte, wiedergewählt zu werden. Das kritische erste Jahr nach dem Krieg, als die USA 1968 versäumten, Israel zu zwingen, sich aus den eroberten Gebieten zurückzuziehen, war natürlich ein Wahljahr. Die meisten unserer gegenwärtigen Probleme hängen damit zusammen.
Nur einmal ging die Rechnung nicht auf: Als Ben Gurion 1956 zusammen mit Frankreich und Großbritannien eine geheime Aktion gegen Ägyptens Gamal Abd-el-Nasser unternahm. Nachdem die Sinaihalbinsel erobert worden war, rief Ben Gurion das »3. israelische Königreich« aus. Er war sich sicher, daß die Amerikaner so sehr mit ihrer Wahl beschäftigt seien, daß sie sich hier nicht einmischen würden. Er hatte unrecht. Präsident Dwight Eisenhower, der vor einer Wiederwahl stand, war sich seines überwältigenden Wahlsieges gewiß. Er brauchte die jüdischen Stimmen nicht. Außerdem war er ein Mann mit Grundsätzen. Also setzte er Ben Gurion eine Art Ultimatum: den Sinai zu räumen – »sonst passiert etwas!« Vier Tage, nachdem Ben Gurion sein »Königreich« ausgerufen hatte, kündigte er seinen Rückzug an. Dies war aber eine Ausnahme.
Ariel Sharon, der sich – genauso wie Shimon Peres – für einen persönlichen Jünger Ben Gurions hält, gründet seine jetzige Politik auf dieselbe Überlegung: Präsident George Bush kämpft ums politische Überleben. Er wird es nicht wagen, zu diesem Zeitpunkt einen Streit mit Israel zu provozieren. So wird Sharon von jetzt ab bis November tun können, was ihm gefällt. Präsident Bushs berühmte Road Map ist tot. (Ich höre ihn geradezu fragen: »Road Map? Was für eine Road Map? Die einzige Karte, die ich brauche, ist der Straßenplan zum Weißen Haus.«) Seine Forderung, alle Bautätigkeiten in den Siedlungen einzufrieren, auch für das »natürliche Wachstum«, ist zu einem Witz geworden. Sharon hat gerade offen verkündet, daß sechshundert neue Häuser in der Siedlung Maaleh Adumim (östlich von Jerusalem) gebaut werden sollen.
Emissäre des amerikanischen Sicherheitsrates und des Außenministeriums (übrigens zionistische Juden) baten Sharon praktisch auf Knien, Dutzende der nach 2001 entstandenen neuen Siedlungen (sogenannte Außenposten) zu demontieren. Sharon hat Bush dies viele Male versprochen – als Gegenleistung für eine langjährige Pro-Israel-Politik der USA.
Sharon mußte sich zurückhalten, um die Emissäre nicht auszulachen. Doch hat er ein vitales Interesse an Bushs Wiederwahl. Denn er fürchtet sich vor John Kerry, auch wenn der genau dasselbe zum israelisch-palästinensischen Problem sagt wie Bush, und obwohl Kerrys Großvater Cohen hieß. Die Erfahrung zeigt allerdings, daß es keine notwendige Verbindung zwischen dem gibt, was Politiker vor der Wahl sagen, und dem, was sie danach tun. Das ist die Kehrseite der Wahl-Medaille.
Sharon mag also überredet worden sein, etwas zu tun – irgendetwas – das Bush zu behaupten erlaubt, er habe im Nahen Osten einen »historischen Durchbruch« erreicht – wer weiß? Vielleicht werden eine Woche vor den Wahlen drei Wohnmobile (eines Außenpostens) von irgendeinem gottverlassenen Hügel in Samaria abgeholt.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs