Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 2. August 2004, Heft 16

Kardinalfehler

von Hermann-Peter Eberlein

Die Frage nach der Identität des Westens, speziell Europas, wird spätestens seit der Konfrontation mit dem Islamismus wieder heftig diskutiert. Verstärkt nehmen Vordenker und Interessenvertreter der Kirchen Anteil an dieser Debatte, scheint sich hier doch die Chance zu bieten, verlorenes Terrain zurückzugewinnen und den christlichen Glauben und seine gesellschaftlichen Institutionen als Fundament europäischen Selbstverständnisses neu zu profilieren. Ein lehrreiches Beispiel für die Argumentationsmuster, die dafür gerne benutzt werden, hat der Präfekt der römischen Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger, unter dem Titel Warum haßt sich der Westen? jüngst in der Juni-Ausgabe des Hochglanz-Politwerbeträger Cicero vorgelegt. Ratzinger ist Intellektueller von Format und ein noch größerer Demagoge; solche Leute sind gefährlich – darum lohnt es, einige seiner Behauptungen und Unterstellungen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Da wird beispielsweise die »technisch-säkulare Lebens- und Denkweise« der meisten Europäer unserer Zeit angeprangert und – ohne Begründung – als »posteuropäisch« apostrophiert. Damit wird unter der Hand ein zentrales Moment aufklärerischer Tradition vom Begriff Europa gelöst, und es bleibt – ähnlich wie bei den katholischen Ideologen der Romantik – für das »eigentliche« Europa die vor-aufklärerische christliche Tradition übrig. Es liegt auf derselben Linie, wenn Ratzinger pragmatische und utilitaristische ethische Konzeptionen nicht allein pauschal als »intoleranten Dogmatismus« attackiert, sondern geradezu als »Umkehrung der Werte, die die Eckpfeiler Europas bilden«, ja als »Bruch der gesamten moralisch-ethischen Tradition der Menschheit« brandmarkt. Dabei werden freilich die geistigen Hintergründe vorsichtshalber nicht genannt – vermutlich, weil doch immerhin große Namen der philosophischen Tradition dahinterstehen, die man nicht mit einem Federstrich beiseiteschieben kann.
Wird also auf der einen Seite mit Reduktionen gearbeitet, um mit dem christlichen Europa vor Bentham und Kant eine Größe zu konstituieren, die sich als Identifikationsobjekt eignet, so werden auf der anderen Seite Zusammengehörigkeiten unterschoben, wo sie nicht hingehören. So verweist etwa die Unableitbarkeit der Menschenwürde bei Ratzinger »letztlich nur an den Schöpfer«. Dabei läßt sich der Gedanke der Menschenwürde durchaus plausibel eben auch nicht-religiös ableiten: etwa aus dem Naturbegriff (in Anlehnung an die Stoa) oder von der Autonomie der Vernunft her (so Kant). Auch diese Denkmodelle gehören zur Tradition Europas. In ähnlicher Weise nimmt Ratzinger bei der Religion den Mund zu voll: Nach Friedrich Schleiermachers und Rudolf Ottos klassischen Definitionen durch die Verbindung mit den Begriffen des Unendlichen oder des Heiligen zulänglich beschrieben, verbindet der Kardinal sofort den Gottesbegriff mit ihr, als könne das gar nicht anders sein. Nun mag man ihm zwar darin zustimmen, daß Religion so etwas wie eine anthropologische Konstante darstellt – das gilt für die Vorstellung eines persönlichen Gottes deshalb jedoch noch lange nicht.
Die Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie derart interessegeleitete Argumentationen immer wieder funktionieren: Es wird weggelassen, was nicht ins Konzept paßt, und hinzugefügt, was man gerne hätte. Damit erhält man in der Tat das Bild, das man als Stütze der eigenen Position braucht: ein im Fundament christliches, wenn auch degeneriertes Europa, das sich nur auf seine Quellen besinnen müßte, um wieder Format, Selbstbewußtsein und Kraft zu finden – selbstverständlich mit Hilfe der Kirchen. Doch so einfach ist es eben nicht. Europa hat seine christliche Tradition, aber auch seine jüdische, seine islamische und – im antiken Griechenland wie in der Neuzeit – seine religionskritisch-säkulare: und vielleicht stellt ja gerade der konsequente Säkularismus der Moderne das Besondere des europäischen Weges dar. Darum, im Namen der historischen Wahrhaftigkeit, im Namen aber auch der großen Protestanten von Feuerbach und Marx bis zu Darwin und Nietzsche: Einspruch, Eminenz!