von Werner Abel
Alle weltgeschichtlichen Tatsachen, so meinte Marx in Anlehnung an Hegel, ereignen sich zweimal: Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Wilhelm Liebknecht, der Marx recht nahe stand, erklärte in seinem Volksfremdwörterbuch das Wort »Farce« mit dem deutschen Wort »Posse«. Gesetzt den Fall, auch Marx hätte diese Wortbedeutung im Sinn gehabt, dann hatte der ansonsten so treffsichere Analytiker seine Rechnung ohne die deutsche Sozialdemokratie gemacht. Denn das, was heute mit Hartz IV die öffentliche Diskussion bestimmt und hauptsächlich von der Sozialdemokratie zu verantworten ist, kann kaum als Posse, eher doch wohl als Tragödie bezeichnet werden.
So neu, wie es auf den ersten Blick scheint, ist die ganze Geschichte allerdings nicht: 1929 sah sich der Hauptverband der deutschen Krankenkassen gezwungen, eine Streitschrift gegen massive Angriffe seitens der Politik, der Wirtschaft und aus Kreisen der Wissenschaft gegen die Sozialversicherungen und die Arbeitslosenunterstützung in Auftrag zu geben. Ein Helmut Lehmann verfaßte die Broschüre Die Sünde wider das Volk – ein Titel, der in seiner Wortwahl an die berüchtigte antisemitische Trilogie von Artur Dinter erinnert – eine Auseinandersetzung mit diesen Angriffen, deren Aktualität in Erstaunen versetzt.
Noch verwunderter reagiert der heutige Leser dieses alten und, so wäre zu hoffen gewesen, nur noch historisch interessanten Textes, wenn er feststellt, gegen wen Lehmann polemisierte. Zunächst gegen den Gießener Professor Horneffer, seines Zeichens Philosoph und Theologe, der in einer gleichnamigen Broschüre die deutsche Sozialpolitik als »Frevel am Volk« bezeichnet hatte. Das Sozialversicherungssystem und die Arbeitslosenunterstützung seien nichts weiter als Sozialismus in der Praxis, ja Bolschewismus gar und damit nichts anderes als ein Angriff auf den Arbeits- und Leistungswillen des deutschen Volkes. Die oft gerühmte Bismarcksche Sozialpolitik sei nur ein Kompromiß gewesen, um die aufbegehrende Sozialdemokratie zu neutralisieren. Was allerdings nicht gelungen sei, denn diese Sozialdemokratie habe die sozialpolitischen Errungenschaften mit immer neuen Forderungen pervertiert und so dazu genutzt, ihre antikapitalistischen und letztlich antideutschen Vorstellungen in die Tat umzusetzen.
Nun könnte man die völkischen Tiraden Horneffers als deutschnationale und antisoziale Hirngespinste vergessen, wären da nicht Argumente, die denen verblüffend ähneln, die heute zur Begründung benutzt werden: Die Sozialversicherungen minderten die Eigenverantwortung und würden dazu mißbraucht, den Staat in Permanenz zur Kasse zu bitten. Die Arbeitnehmer zögen es vor, »krankzufeiern« statt Leistungen für die Gemeinschaft zu bringen. Das gelte natürlich auch für die Arbeitslosenversicherung, denn eher ließe man sich vom Staat alimentieren als eine minderbezahlte, aber nützliche Arbeit anzunehmen.
Die Arbeit sei keine Ehre und kein Adel mehr. Im Gegenteil: »Man begegnet in unserem Volke vielfach einem wahren Haß auf die Arbeit … Das Bürgertum muß mit höchster Überanstrengung einholen und nacharbeiten, was der andere Volksteil durch zu wenig Arbeit versäumt.« Die Frage, was aber zu tun sei, wenn es keine Arbeit gäbe, ließ Horneffer schon damals nicht gelten: Eigeninitiative zeigen, vor allem Verantwortung für das Ganze! Alles andere sei verwerflich, Sozialismus eben. Allerdings murrten schon damals einige Sozialdemokraten beleidigt, wenn man ihnen sozialistisches Denken und Handeln unterstellte, und auf Dauer ließ auch die Gesamtpartei diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen.
Jetzt aber kommt endlich die große Stunde: Der Trend heißt heute nicht mehr »Genosse«, er ist neoliberal. Nach einer Periode der »ruhigen Hand« entschloß sich der Kanzler zu handeln, konsequent und mit Hartz. Vielleicht hat ihm jemand von Carl Schmitt erzählt und von dessen Theorie des Dezisionismus: Nicht warten, sondern entscheiden und zuschlagen, erprobt 1932 im »Preußenschlag«, der zu einer wirklichen Zäsur in der Geschichte der Weimarer Republik wurde.
Aber vielleicht haben der Kanzler und seine Experten überhaupt nicht in historischen Analogien gedacht? Denn dann hätte man schnell gemerkt, daß Peter Hartz so singulär nicht ist und schon gar nicht ohne historisches Vorbild. Das Kuriose, aber gar nicht Lustige ist, daß oben genannter Helmut Lehmann, und damit sind wir auch wieder bei Marx, noch gegen einen anderen skurrilen Wissenschaftler zu polemisieren hatte, der mit »unserem« Hartz offensichtlich nicht nur den Namen, sondern auch das Denken gemeinsam hatte.
1928 hatte Gustav Hartz sein Buch Irrwege der deutschen Sozialpolitik und der Weg zur sozialen Freiheit veröffentlicht. Die Quintessenz des Buches: Statt Versicherungszwang Sparzwang! Das bedeutete im Klartext: Wenn keine Beiträge mehr für die Sozial- und Arbeitslosenversicherungen erhoben werden dürften, können die Arbeitnehmer erhebliche Summen sparen, denn, so Originalton Hartz: »Mit der ausgedehnten Sozialversicherung ist die deutsche Arbeitnehmerschaft proletarisiert und ihr Sparvermögen sozialisiert worden.« Wie Gustav Hartz diesem schleichenden Sozialismus entgegentreten wollte, verriet er in folgendem Beispiel: »Wenn ein Arbeiter mit einem Wochenlohn von 36 RM vom 20. bis 60. Lebensjahr die Sozialversicherungsbeiträge sparen würde, dann hätte er 33 000 RM Kapital … Bei eintretendem sozialen Notfall ist der Sozialsparer zuerst auf sein eigenes Kapital angewiesen … Im übrigen ist das Sparkonto nach gesetzlicher Vorschrift gesperrt … In Abständen von fünf, acht oder zehn Jahren muß aber der Sozialsparer über die Hälfte des in dieser Zeit eingezahlten Kapitals – soweit es noch nicht für soziale Notfälle verbraucht ist – frei verfügen können.«
Und genau hier lag die geniale Erkenntnis von Gustav Hartz – die man heute nur noch nicht so richtig aktualisiert und auf die möglichen Einkommen umgerechnet hat. Arbeitsplätze, so wußte er, seien natürlich auch ein Problem der Investitionen. Die Mittel dafür aber seien eher rar. Bei ausländischen Investoren käme noch hinzu, daß man sich nicht sicher sein könne, wer da mit welchen Absichten komme; es handele sich schließlich um die deutsche Wirtschaft, die deutsch bleiben müsse … Kurzum: Autarkie war das Schlagwort dieser Konservativen, die, Kuriosum am Rande, damit zu den ersten Globalisierungsgegnern wurden.
Wo also Investitionsmittel hernehmen? Gustav Hartz lenkte den Blick auf die Millionen von Arbeitnehmer. Wenn diese nun keine Versicherungsbeiträge mehr leisten, sondern das dafür benötigte Geld sparen müßten, könnten sie, so ihnen nichts Schlimmes geschah, dieses in der Wirtschaft investieren und sich sogar Häuser bauen. Vor seinem geistigen Auge entstand aus den besitzlosen Massen eine Riesenschar von Kleinkapitalisten und Hausbesitzern.
Endlich würde der Zustand beendet, in dem – verursacht durch die Sozialversicherungen – die »Gedankenlosigkeit, Unmoral, Gewissenlosigkeit und Verantwortungslosigkeit bis zum Übermaß« gesteigert seien. Wenn alle Arbeiter Kapitalisten geworden seien, gäbe es auch keinen Klassenkampf mehr, dann gäbe es nur noch das Volk.
So gesehen, werden die zu erwartenden Auswirkungen der Hartz IV-Reform natürlich zu Unrecht als grausam denunziert, denn als echte Volkspartei muß die SPD die Interessen des ganzen Volkes vertreten, und das kann man am besten, wenn man dieses zuvor homogenisiert. Da müssen temporäre Reibungen und die im übrigen »maßlos überspitzten Reaktionen« in der Öffentlichkeit schon mal in Kauf genommen werden. Zu DDR-Zeiten behaupteten kritische Zungen, die Auswirkungen der Russischen Revolution wären ein Rückfall hinter die Französische Revolution. Unsere Bundesrepublik kann natürlich nicht schlechter sein als die DDR, und schon meinen heute einige, Hartz IV sei einen Rückfall hinter Bismarck. Sie sind im Recht.
Professor Horneffer und Gustav Hartz bewiesen uns vor 75 Jahren, daß das Jahr 1883 mit dem Beschluß über das erste Krankenversicherungsgesetz die Geburtstunde des deutschen Proletariats gewesen war. Die Sozialdemokratie hat sich damals längere Zeit als die Partei des Proletariats ausgegeben mit der Absicht, dieses abzuschaffen – mit etwas anderen Mitteln allerdings, als Marx sich das vorgestellt hatte. Jetzt, im Jahre 2004, beginnt die wahre Revolution. Da Marx eigentlich so ziemlich alles verkehrt sah und bewertete, muß natürlich auch die Frage nach der eingangs erwähnten Behauptung von Marx offen bleiben, was nun die Tragödie ist, was die Posse? Die Diskussion am Ende der zwanziger Jahre oder die von heute?
Aber vielleicht ist es doch sinnvoll, daran zu erinnern, daß auf den historischen Hartz des Jahres 1928 das Jahr 1933 folgte?
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