von Wladimir Wolynski, Moskau
Sergej Kowaljow hat in etwa zur gleichen Zeit wie ich, Ende der vierziger/ Anfang der fünfziger Jahre, in Moskau studiert. Bereits damals hielt er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Er gehörte zu jener nicht allzu großen Studentenschar, die Fragen stellte, die in den Vorlesungen nicht beantwortet werden durften. Doch er hatte Glück, weil sich Professoren fanden, die Studenten seiner Art zu sich nach Hause einluden und den Gedankenaustausch im engen Kreis pflegten. 1956 gehörte Kowaljow zu dem Fähnlein der Aufrechten, die am Puschkin-Denkmal öffentlichen Protest gegen den Einsatz der Sowjetarmee in Ungarn erhoben. Dieses und weiteres Engagement bezahlte er mit einigen Jahren Lager.
Aber weder dort noch in den späteren Jahren hat Kowaljow aus seinem Herzen eine Mördergrube gemacht. Seine Autorität als Bürgerrechtler, die sich allein auf Haltung gründet, ist unumstritten. Nicht zuletzt ist sie der Grund dafür, daß er der Verfasser des Kapitels II der Verfassung Rußlands ist, in dem die Rechte des Bürgers festgeschrieben sind. Beruflich ist der Biologe derzeit Präsident des Instituts für Menschenrechte an der Akademie der Wissenschaften.
Irina Schust hat Sergej Kowaljow jüngst für die Jewrejskaja Gazeta (Jüdische Zeitung) interviewt. Auf die Frage, ob es stimme, daß es um die Meinungsfreiheit in Rußland gut bestellt sei, antwortete er scharf: »Das ist eine Lüge. Meinungsfreiheit gibt es in Rußland nicht.« Natürlich seien die Herrscher schlau genug einzusehen, daß die Einführung einer Zensur nach Art und Weise der Sowjetvergangenheit heute nicht möglich sei. Sie verstünden jedoch, die Massenmedien so zu lenken, daß diese zum wichtigsten Steuerungselement der gelenkten Demokratie würden.
Die Aufgabe der Generale und Oberstleutnante des KGB, so Kowaljow, bestehe derzeit nicht darin, die Zensur in der Art und Weise wieder einzuführen, wie sie seinerzeit durch Glawlit, die sowjetische Hauptverwaltung für Literatur, praktiziert worden sei. Damals unterschieden sich die sowjetischen Zeitungen lediglich durch ihren Namen, ihre Inhalte waren die gleichen. Diese Zeiten seien vorbei, dieser Mechanismus verschlissen. Die Aufgabe der KaGeBisten laute heute, jedermann seinen Stall- und Stellplatz zuzuweisen. Hier gehörst du hin, und das hast du zu machen! Die dir zugewiesene Aufgabe führe in dem Rahmen aus, der dir zugewiesen ist!
Analysiere man die Fernsehkanäle, sagt Kowaljow, so stelle man schnell fest, daß hier eine kritische Bemerkung angebracht, dort ein kritischer Tupfer eingestreut werde, durchaus auch hoch bis zu gewissen Obrigkeiten. Aber jeder kenne seine Grenzen und überschreite diese niemals. Als vor einiger Zeit der mehr oder weniger unabhängige Fernsehkanal NTV gemeuchelt wurde, habe der Präsident ein verwundertes Gesicht aufsetzen und jedwede Einmischung in die Arbeit der Massenmedien abstreiten können. Das sei ein Streit zwischen wirtschaftlichen Interessen, und der werde vor Gericht entschieden. Und er wurde es. Allerdings so, daß es der Präsident zufrieden war …
Damit wurde den Massenmedien eine öffentliche Lektion erteilt. Ein Beispiel aus Kowaljows eigener Erfahrung: »Jüngst war ich in Rostow. Zwei Stunden lang hat sich eine attraktive Moderatorin mit mir vor laufender Kamera unterhalten. Unser Gespräch beendete sie mit den Worten: ›Was sind Sie, Herr Kowaljow, doch für ein interessanter Gesprächspartner! Schade, daß wir das niemals senden werden.‹ Und sie hatte recht. Kein Wort ging über den Sender. So wirken einmal erteilte Lehren nach. Die Journalisten spüren sehr gut, wo die Grenze ist, die zu überschreiten gefährlich ist.«
Am beruflichen Können der Journalisten fehle es nicht, weiß der Menschenrechtler. Sie verstünden ihr Handwerk. Aber ihr Können sei nicht von Belang, weil sie abhängig seien. Da wirke ein versteckter Mechanismus der Abhängigkeit. Er beruhe darauf, daß Journalisten mit Köpfchen gut verdienen. Das gehe in Ordnung, denn qualifizierte Arbeit solle gut bezahlt werden. Das Schlimme aber sei, daß sie in ihren Redaktionen über eine gewisse Summe »Papier-Rubel« quittierten, man ihnen anschließend aber – versteckt in einem Umschlag – »greenbacks« zustecke; »harte« Dollar.
Daß der Staat dadurch an Steuern verliert, ist Kowaljows geringste Sorge. »Das ist lediglich ein Tropfen im Meer. Mich beunruhigt, daß jeder um die Konsequenzen weiß, die daraus erwachsen, daß alle von diesen Vorgängen wissen!« Wenn einer mal das Maul aufreißen würde, wäre er seine Dollars los und säße mit seinen Papier-Rubeln da. Außerdem könne man ihm den Prozeß machen. »Das macht die Journalisten abhängig, macht sie lenkbar. Niemand braucht ihnen zu sagen, was sie schreiben sollen, wenngleich es auch gewissenlose Journalisten gibt, die ›Jubel‹-Schreiber. Die kennt ein jeder. Aber die anderen, die keineswegs Berufs-›Jubler‹ sind, die achten darauf, was man schreiben kann und was lieber nicht …«
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