von Ove Lieh
Einst gab es den Brauch, beim Abdruck von Politikerreden in Zeitungen die Reaktionen des Publikums mitzuteilen. Leider tat man das bei dem mir vorliegenden Text der letzten Berliner Rede (erleichtertes Aufatmen bei allen) des scheidenden Bundespräsidenten (bedauernde Minen bei einigen Satirikern, besonders von der Titanic) nicht. Deshalb wird das hier mit ausgewählten Textstellen nachgeholt.
»Das ist die letzte ›Berliner Rede‹, die ich als Bundespräsident halte.« (Lang anhaltender Beifall) »Ich will heute über das Thema sprechen, das ich in der politischen Debatte derzeit für das wichtigste halte. Und ich wende mich dabei an alle, denen die Zukunft unseres Landes am Herzen liegt – an die, die heute Verantwortung tragen, und auch an die, die Verantwortung übernehmen könnten und übernehmen müssten, damit unser Land aus einer schwierigen Lage herauskommt und neue Zuversicht und neue Dynamik gewinnt.« (Fragendes Umschauen bei allen, vereinzelt Schulterzucken) »Ich meine nicht die Steuerpolitik, ich rede nicht über das Renten- oder das Gesundheitssystem. Ich rede auch nicht über den notwendigen Umbau des Föderalismus, nicht über die dringend erforderlichen Veränderungen in unserem Bildungswesen und auch nicht über die gerechte Umgestaltung des Sozialstaats.« (Deutlich hörbares Aufatmen auf der Regierungsbank) »Ich rede von Vertrauen und Verantwortung.« (Allgemeines Schmunzeln, leicht abschätzig)
»Wir wollen schließlich, dass wir auch in Zukunft friedlich und in Freiheit miteinander leben können – in einer Gesellschaft, in der Leistung etwas gilt und die Gerechtigkeit und Solidarität lebt.« (Lang anhaltendes, nicht enden wollendes Gelächter bei den Unternehmern, die PDS reagiert darauf mit lauten Protesten; Zwischenruf: »Das können nur wir Grünen mit Joschka Fischer an der Spitze!«; Opposition: »Nicht mit uns, Herr Rau, nicht mit uns!«)
»Jeder Mensch braucht eine gewisse Grundsicherheit, damit er den Kopf frei hat, auch für Anstrengung und Erfolg im Beruf.« (Widerspruch bei den Liberalen: »Nein, mehr Freiheit!«, Zwischenruf von den Managern: »Richtig, angemessene Abfindungen für alle!«, Gewerkschaft: »Versager!«)
»Das Gefühl für das, was richtig und angemessen ist, scheint oft verlorengegangen zu sein. Egoismus, Gier und Anspruchsmentalität in Teilen der sogenannten Eliten schwächen auch das Vertrauen in die Institutionen selber, wenn deren Repräsentanten offenbar alle Maßstäbe verloren haben.« (Heiterkeit im Unternehmerlager, FDP: »Unverschämtheit!«, schuldbewußtes Zusammenzucken bei allen Arbeitnehmervertretern)
»Wir müssen den Primat der Politik wieder gewinnen – einer Politik, die sich an Werten orientiert und sich nicht darauf beschränkt, tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge zu exekutieren.« (Begeisterte Zustimmung bei der PDS, dröhnendes Gelächter bei Unternehmern und Managern, Heiterkeit im Bundestag, anonymer Zwischenruf: »Selber Primat!«)
»Es ist ein Ausdruck von Verantwortungslosigkeit, wenn eine Regierung Vorschläge nur deswegen ablehnt, weil sie von der Opposition kommen, obwohl sie sie insgeheim für vernünftig hält. Und es ist genauso Ausdruck von Verantwortungslosigkeit, wenn eine Opposition vernünftige Vorhaben nur deshalb scheitern läßt, weil sie von der Regierung kommen, obwohl sie sie selber genauso durchsetzen würde, wenn sie an der Macht wäre.« (Zwischenrufe: »Wer macht denn sowas!?«, Heiterkeitsausbrüche überall)
»Es liegt an jedem von uns, dieses Land, unser Land jeden Tag ein Stück menschenfreundlicher zu machen.« (Das aufbrandende Gelächter scheint den Saal zu sprengen, erste »Zugabe«-Rufe werden laut, Lachtränen fließen in Strömen. Halberstickter Kommentar eines Zuhörers: »Und da wird immer behauptet, Politik wäre langweilig, saukomisch ist die, saukomisch!«)
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