Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Juni 2004, Heft 12

Tschernobyls Schatten

von Kathrin Singer, Kiew

In den Regalen des Lebensmittelladens von Jelne stehen fein säuberlich Zucker, Schokolade, Spaghetti und Bier aufgereiht. Milch wird man hier vergeblich suchen. »Die braucht keiner«, so die feste Überzeugung der Verkäuferin. Die versammelten Frauen im Laden, junge wie alte, stimmen ihr lebhaft zu. »Wir haben unsere eigene Milch. Von unseren Kühen, die wir großgezogen haben und melken.«
Die Entschiedenheit, mit der diese Sätze wiederholt werden, macht klar, daß hier jede Diskussion über Kernstrahlung und deren Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder zwecklos ist. Dabei ist nichts in diesem nordukrainischen Dorf, das 300 Kilometer von Tschernobyl entfernt liegt, so verstrahlt wie die Milch. 500 Becquerel pro Liter – das ist das Fünffache dessen, was international als tolerierbar gilt. 293 Liter Milch trinken die Menschen hier durchschnittlich pro Jahr – doppelt soviel wie in Deutschland. Auch die Kartoffeln sind verstrahlt, das Fleisch, die Pilze und Beeren. Die Frauen wissen das, natürlich.
Nach jenem 26. April des Jahres 1986, an dem in Tschernobyl beim schwersten Unfall in der Geschichte der zivilen Kernkraftnutzung ein Kernreaktor explodierte, war die Ukraine in Zonen der Gefährdung eingeteilt worden. Jelne im Gebiet Rokitne gehört heute zur Zone Drei. Wer hier wohnt, kann, wenn er es wünscht, evakuiert werden. Zur Unterstützung stellt der Staat Wohnungen in anderen Gebieten des Landes zur Verfügung. Aus Jelne ist jedoch in all den Jahren keiner weggegangen. Und wer aus den Nachbarorten gegangen war, kam nach einigen Jahren wieder zurück. Das Glück konnten sie nicht finden in der Fremde, heißt es. Es fehlte die Heimat, fehlte die eigene Wirtschaft, und es fehlte der unendlich große Wald.
Von ihm, dem Wald, haben die Leute hier immer gelebt. Pilze und Beeren – dabei vor allem die wegen ihres Vitamingehalts so hoch geschätzten Preiselbeeren – wurden hier tonnenweise gesammelt und verkauft, erzählen die Frauen im Geschäft. Heute ist das alles verboten. Waren aus den strahlenverseuchten Dörfern und Wäldern dürfen in den Läden und auch auf den Märkten nicht verkauft werden. Auch die Rinder und Schweine, deren Becquerel-Werte dreimal höher sind als erlaubt, dürfen nur zur Eigenversorgung gehalten werden. Vierzig Dörfer im Norden der Ukraine befinden sich in diesem Dilemma. Die Kleinbauern nehmen 95 Prozent der Strahlung über die von ihnen produzierte Nahrung auf. 395000 Menschen insgesamt sind von dieser Situation betroffen.
Seit Oktober 2003 gibt es jedoch ein wenig Hoffnung. Die Internationale Atomenergie-Agentur IAEA, die ihren Sitz in Wien hat, finanziert ein Projekt mit dem Ziel, durch landwirtschaftliche Methoden die Auswirkung der Strahlung wesentlich zu verringern. Peter Jacob vom Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in München ist Leiter dieses Programms. Vor Ort betreuen die Wissenschaftler des Instituts für landwirtschaftliche Radiologie in Kiew die Arbeit. Sie sind im Herbst vergangenen Jahres nach Jelne gekommen. »Den Bauern«, sagt Direktor Walerie Kaschparow, »haben wir nicht gesagt, daß wir hier ein wissenschaftliches Experiment durchführen, sondern daß wir ihnen helfen wollen, ihre Ernte zu verkaufen. Daran sind die Leute interessiert, und deshalb haben sie uns vom ersten Tag an unterstützt. Drei Wochen lang«, fährt er fort, »wurde alles im Dorf auf Strahlung geprüft und gemessen. Die Menschen vor dem Haus, im Haus, im Stall. Die Kühe auf der Weide, die Kühe im Stall. Der Verbrauch von Milch, Kartoffeln und Gemüse. Im Resultat sind wir zu einem interessanten Ergebnis gekommen: Die Konzentration von Cäsium 137 ist in der Region nicht höher als in Frankreich oder Schweden. Das Problem jedoch ist der torfhaltige Boden, über den das Cäsium über die Wurzeln in das Gras wandert. In Ländern wie Frankreich oder Schweden wäre auch das wiederum kein Thema. Dort würde man die betroffene Schicht Erde einfach abtragen oder düngen. Doch dafür gab es in der Ukraine in den letzten achtzehn Jahren keine Mittel. Und so bauen sich gleich mehrere verhängnisvolle Kreisläufe auf: Die Kühe fressen auf der Weide das radioaktiv belastete Gras und produzieren verseuchte Milch, die den stetigen Anstieg von Schilddrüsenkrebs verursacht. In den Stall zurückgekehrt, produzieren sie Mist, der als Dünger auf die Felder kommt und die Kartoffeln verstrahlt. Die wiederum werden von den Schweinen gefressen, die außerdem auch noch die verstrahlte Restmilch zu saufen bekommen.«
Seit 1987 beschäftigt sich Kaschparow mit den Auswirkungen von Tschernobyl. In seinem nach der Katastrophe errichteten Institut wurde in unzähligen Versuchen rund um den Atomreaktor erforscht, wie sich die Radionuklide im Wasser verhalten: ob sie von verseuchten Böden auf neue Erde übergehen und inwieweit sie in Pflanzen eindringen. Cäsium 137 – so hat sich gezeigt – wird von den Pflanzen aus dem Boden aufgenommen, mit kaliumhaltigem Dünger kann man dies aber verhindern. In Jelne muß freilich zuerst einmal die Weidefläche entsumpft werden. Im vergangenen Winter sind Meliorationskanäle gebaut worden, um das Wasser aus den Wiesen abzuziehen. Nun erst kann gepflügt, gedüngt und bald auch gesät werden. 300 Euro kosten diese Maßnahmen pro Hektar. Im Rahmen des Projekts der IAEA sollen achtzig Hektar verbessert werden. Damit die Bauern in anderen Dörfern ebenfalls von dieser Entwicklung profitieren können, sollen die Erfahrungen von Jelne umfangreich dokumentiert werden.
Tausend Hektar, so meint der zurückhaltende, für seine Arbeit unterdessen weltweit geachtete Kaschparow, müßten bearbeitet werden, damit sich für die Menschen um Jelne herum etwas grundlegend verändere. Doch dafür reicht das Geld nicht. Und so merkt der Physiker mit einiger Bitterkeit an, daß bereits ein Vielfaches der für Jelne notwendigen Summe allein für das Hin und Her der schier endlosen Diskussionen, Konsultationen, Studien und Konferenzen rund um den geplanten Bau der auf einige Milliarden Euro veranschlagten Arche zur Einschließung des porösen Sarkophags am Katastrophenort in Tschernobyl ausgegeben worden sei. Von sich selbst, der er in einem altersschwachen klapprigen Wolga zurück nach Kiew fährt, voller Sorge darüber, wie er die achtzig verbliebenen Wissenschaftler seines Instituts am Monatsanfang bezahlen soll, spricht Kaschparow auch an dieser Stelle nicht.