Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Juni 2004, Heft 12

Journalistenneugier

von Frank Schumann

Wir haben sieben Bücher miteinander gemacht, fünf davon waren Zur Person. Die Verbindung zum Verleger hielt er meist übers Telefon, zuweilen schaute er jedoch auch bei der edition ost in der Friedrichstraße vorbei, wenn es denn zeitlich dafür langte. Dann pflegte er sich an den Glastisch zu setzen und das Gespräch mit der Bemerkung zu eröffnen: »Was gibt es Neues an Klatsch?« Staatssekretär a. D. Gaus, der Diplomat, gab sich dann als das zu erkennen, was er im Grunde seines Herzens immer geblieben war: als Journalist. Wenn er in Berlin weilte, lief er gleichsam wie mit einem Staubsauger durch die Straßen und Institutionen, um Nachrichten einzusammeln, die in keiner Zeitung standen.
Zuweilen drohte die Neugier über seine ausgeprägte Fähigkeit zu kühler Analyse zu siegen. Etwa dann, wenn er – wie weiland als Ständiger Vertreter – unberührtes Terrain besetzen konnte. Bekanntlich machte sich Margot Honecker in den neunziger Jahren mit öffentlichen Erklärungen rar, namentlich deutschen Journalisten gegenüber verhielt sie sich abweisend. Da ich 1994 Honeckers Moabiter Notizen verlegt hatte, glaubten viele Redaktionen seither, mich als Briefkasten für Interview-Wünsche benutzen zu können. Die Offerten – es waren die fetten Jahre – wurden mit interessanten Zahlen garniert. Aber: Margot Honecker blieb standhaft.
Nun fragte also auch Günter Gaus. Er käme mit dem Drehstab notfalls nach Chile, um sie dort zu befragen, wie er es auch mit Christa Wolf getan hatte, als diese in den USA weilte. Trotz aller Sympathie, die Frau Honecker zweifellos für Gaus hegte, wehrte sie sein Ansinnen nachdrücklich ab. Über die Gründe mag man spekulieren. Gaus war verärgert, als ich ihm ihre Absage übermittelte. Er hätte gern als erster (und am liebsten als einziger) deutscher Fernsehjournalist die einstige First Lady der DDR zur Person (und damit auch zur Sache) bohrend befragt.
Der Unmut über die Verweigerung, so schien mir, wäre geringer ausgefallen, wenn er denn nüchtern kalkuliert hätte, was ihn im Falle des Erfolges ereilt hätte. Die bereits bestehende Ächtung durch die politische Klasse der Bundesrepublik wäre um einige Grade verschärft worden, weil dieses Gespräch als vermeintlicher Versuch, die Frau des Despoten salonfähig zu machen, denunziert worden wäre. Gaus erinnerte die Kaste allein durch seine physische Präsenz daran, daß es mal eine Deutsche Demokratischen Republik gegeben hatte. Deshalb lud man ihn auch kaum noch ein. Als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei der DDR – auf diese Präposition legte er großen Wert: Er hätte gewiß einige wütende Briefe verfaßt, wären ihm zu Lebzeiten die Nachrufe vor Augen gekommen, in denen fälschlich von der »Ständigen Vertretung in der DDR« geredet wurde – schien er einigen die fleischgewordene DDR, die sie vergessen wollten. Stand er im Raum, drängte zwangsläufig die Erinnerung nach vorn: Da war doch mal was?
Eine solche Episode erzählte er mir beiläufig, als ich ihn ins ehemalige Palast-Hotel fuhr, in dem er auch noch abzusteigen pflegte, als es Radisson hieß, ehe es planiert wurde. (»Das heißt Geldvermehrung durch Geldvernichtung, Herr Verleger. Ihr Ossis habt den Kapitalismus noch immer nicht begriffen.«) Wir bogen in die Spandauer Straße ein, und mit Blick aufs Rote Rathaus erzählte der Mitherausgeber des Freitag, wie er unlängst als geladener Gast der Auszeichnung Heinz Berggruens habe beiwohnen dürfen. Weil der Mäzen der Stadt seine Bilder-Sammlung vermacht hatte, ehrte ihn der Regierende Bürgermeister mit dem Bundesverdienstkreuz. Und da man für solche Veranstaltungen Publikum benötigte, lud die Protokollabteilung fünfzig Gäste in den Wappensaal. Auch Gaus, der mit Bitterkeit registrierte, daß sich unter diesem halben Hundert nicht ein einziger Ostberliner befand. Eberhard Diepgen habe ihn nach der Zeremonie an den Arm genommen, sei mit ihm an ein Fenster geschritten und wies, als sei er der Eigentümer, mit ausholender Geste auf Neptunbrunnen, Marienkirche, Fernsehturm und Wasserspiele: »Schön, nicht wahr, Herr Gaus.« Worauf er, so mein Beifahrer, gesagt habe, er hätte hier schon einmal gestanden, und zwar mit Oberbürgermeister Krack, doch da habe er sich weitaus wohler befunden als im Augenblick. Draufhin drehte Diepgen auf dem Absatz und schritt beleidigt davon …
Auch wegen solcher Geschichten liebte ich Günter Gaus. Sie trösteten über Momente hinweg, in denen er es einem schwermachte, ihn zu mögen. Wenn er schlechter Laune war oder das Gefühl hatte, er werde intellektuell unterfordert, ließ er das seinen Gegenüber gnadenlos spüren. Mancher legte ihm das als Hochmut oder gar Arroganz aus. Ich entsinne mich an den Anruf eines Buchhändlers aus Mecklenburg, bei dem Gaus – wie stets vor vollem Hause – gelesen hatte. Der gute Mann erklärte ein wenig vorwurfsvoll, Gaus gehe es doch überdurchschnittlich gut mit Haus und Ferienwohnung und üppiger Apanage, der könne gar nicht emotional nachvollziehen, wie es einem Sozialhilfeempfänger im Osten gehe, mithin habe er kein Recht, sich dazu zu äußern. Ich wandte ein, daß Wohlstand zwar beruhige, aber nicht zwingend zur Verblödung führe; der Rentier aus Reinbek sei durchaus ein Mensch, der weder vergessen habe, woher er käme, noch habe ihn sein in Jahrzehnten erarbeitetes Vermögen übermütig werden lassen.
Gut, sagte der Buchhändler, aber ganz schön eitel sei er doch. Da konnte ich schlecht etwas dagegen sagen. Mir war die Tonlage durchaus vertraut, in der Gaus etwa erzählte, daß die von ihm zwischen Berlin und Hamburg auf den Weg gebrachte Autobahn seinen Namen trüge und, warum wohl?, der Intercity zwischen der Hansestadt und der Hauptstadt, abweichend von aller Bundesbahn-Norm, im Vorort Reinbek Station mache.
Ja, und? Über Eitelkeit, die auf Können und Charakter fußt, sollte man großzügig hinwegsehen. Es bleibt noch immer genügend übrig, was es zu würdigen gibt. Und nebenbei zeigt es, daß selbst herausragende Persönlichkeiten letztlich auch nur Menschen sind.