von Wladimir Wolynski, z.Z. Baku
Eben hatte sich Wladimir Putin ein zweites Mal zum Präsidenten von Rußland wählen lassen, da wurde vor laufenden Kameras sein Mann in Grosny, der Mufti Achmad Kadyrow, in die Luft gesprengt. Unter den weiteren Opfern des Anschlags im Dynamo-Stadion Sergej Baranow, der Befehlshaber der Interventionstruppen. Putin, der vor Kraft kaum laufen kann, erweist sich in Tschetschenien als ebenso wacklig wie Bush und dessen Mann Essedin Salim im Irak, der Chef des dortigen Regierungsrates von Besatzergnaden.
In Bagdad wurden wie in Grosny weitere Amtsträger beim Attentat in die Luft gesprengt. Einer von ihnen war Salims Stellvertreter, Taleb Kassim al-Hadschi. Beide sind im Irak nicht die ersten Opfer aus der von den USA und Großbritannien handverlesenen Mannschaft, die bei einem Attentat starben, und auch Kadyrow war nicht der erste in Tschetschenien.
Denn während die Präsidenten Rußlands und der USA sich in der Öffentlichkeit aufspielen, als seien sie Herren der Lage, sind sie in Wirklichkeit Getriebene. Ihr »Kreuzzug« gegen den Terrorismus wirft neben alten auch einige neue Fragen auf. Weder der eine noch der andere scheint diese Fragen auch nur geahnt zu haben. Erklärtes Kriegsziel, von Bush wie von Putin unisono deklariert, ist die »Vernichtung des Terrorismus und aller Terroristen«.
In aller Verschwiegenheit begann Mitte Mai in Moskau unter der beziehungsvollen Code-Bezeichnung Torgau-2004 eine Kommando-Stabsübung an der Moskauer Militärakademie der Streitkräfte Rußlands. (Es sei daran erinnert, daß sich bei Torgau an der Elbe im Frühling 1945 die von Osten kommenden Soldaten der Roten Armee und die von Westen kommenden Militärs der US-Army einander um den Hals fielen, bevor sie Jahre später darauf eingeschworen wurden, einander an die Gurgel zu gehen.)
In Moskau kamen sechzig Generäle und hohe Stabsoffiziere der Streitkräfte Rußlands und der USA zusammen. Die Amerikaner dienen in der 7. US-Army, die in Südeuropa disloziert ist, die Russen in Luft-Lande-Verbänden ihres Landes. Ziel des gemeinsamen Trainings ist es, daß sich die beteiligten Militärs bei gemeinsamer Arbeit persönlich kennenlernen. Ihre Aufgabe besteht darin, an Hand von Karten gemeinsame Militäroperationen durchzu»spielen« und einheitliche Führungsdokumente auszuarbeiten. Ihr eigentlicher Auftrag ist es aber, gemeinsame Militäroperationen gegen ein drittes Land vorzubereiten. Dieses »3. Land« ist der Irak. Stellte doch Rußlands Außenminister Sergej Lawrow – ebenfalls beziehungsreich – am Tag des Übungsbeginns, am 17. Mai, die Zusammensetzung der multinationalen Streitkräfte vor, die für den Fall eines Falles Gewehr bei Fuß für den Tag nach dem 30. Juni bereit stehen sollen. Jenem Datum also, das von den USA als »Tag der Machtübergabe« an ein Sammelsurium von Leuten bezeichnet wird, die allein von Gnaden der USA hantieren und denen bereits jetzt offiziell erklärt worden ist, daß die GIs auf jeden Fall im Lande bleiben werden. Immerhin hat Lawrow einen »Vorbehalt« angemeldet: die Zustimmung der UNO!
Wie gnadenloser Kampf gegen den »Terrorismus« aussehen kann, zeigen das Vorgehen von Militärs und Sicherheitskräften Rußlands in Tschetschenien oder im Moskauer Theater Nord-Ost sowie das Operieren der USA gegen irakische Aufstände in Nadshaf und Kerbela und gegen einige Tausend in der Bagdader Militär- und Sicherheitsfolterhölle Abu Ghoreib konzentrierte tatsächliche oder vorgebliche Terroristen. Dazu kommen massenhafte »Kollateralschäden« unter der Zivilbevölkerung sowie die Zerstörung der gesamten Infrastruktur im willkürlich gewählten Kampfgebiet.
Terroristen nutzen ihrerseits immer häufiger das Kampfmittel der Selbstvernichtung. Der Terrorismus ist nicht staatsgebunden, und die »Terrorakte« sind in der Regel mehr oder weniger perfekt organisiert, ihre Initiatoren und oftmals auch die Ausführenden bleiben im Dunkeln. Sowohl in Tschetschenien als auch im Irak stehen die Zeichen auf Sturm gegen die hochgerüsteten Gegner. Diese sind jetzt schon nicht in der Lage, Handlungen gegen ihre Macht, gegen die von ihnen eingesetzten Quislinge, gegen ihre Soldaten, ihre politischen oder wirtschaftlichen Emissäre abzuwenden. Sie kontrollieren de facto weder Tschetschenien noch den Irak und offensichtlich auch nicht Afghanistan, dessen Präsident Karsai bereits mehrmals nur um Haaresbreite einem Attentat entging.
Doch die USA und Rußland sehen sich nicht einer Handvoll politisch motivierter Terroristen gegenüber, sondern Bevölkerungsmehrheiten, die nicht »greifbar« sind. Die Lage im Irak, in Afghanistan und in Tschetschenien ist allerdings keineswegs so einmalig, wie uns das die tagtägliche Berichterstattung weismachen will. Frankreich stand in den 1960er Jahren vor einem ähnlichen Dilemma. In Algerien hatte der »Kampf gegen den Terrorismus« zu einer Situation geführt, die der heutigen Lage in Tschetschenien oder im Irak ähnelt. Einschließlich der massenhaften Greuel. Seinerzeit wurden sie von den französischen Elitetruppen, den »paras« und der Fremdenlegion, gegen tatsächliche und vorgebliche Terroristen, die in ihre Hand gefallen waren, verübt. (Damals wie heute wurden sie von den Militärs verschwiegen. Heute werden die Greuel in Abu Ghoreib durch Journalisten wie Seymour Hersh öffentlich gemacht, seinerzeit in Algerien waren es Journalisten wie Jean Villain und Henry Allegh.)
Hinter vier Anschlägen auf Frankreichs damaligen Präsidenten Charles des Gaulle standen allerdings keine algerischen, sondern französische Terroristen, die eine politische Lösung um jeden Preis verhindern wollten. Erst die Entscheidung de Gaulles, ab Januar 1961 mit den algerischen »Terroristen« zu verhandeln, also auf eine politische Lösung zu setzen, führte im März 1962 zur Unabhängigkeit Algeriens und zu Frieden in Frankreich. Charles des Gaulle wurde bei den nachfolgenden Wahlen als Präsident wiedergewählt und erwies sich zum wiederholten Male als »Retter des Vaterlands«.
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