Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 21. Juni 2004, Heft 13

Anne Frank

von Hans Springstein

Am 12. Juni wäre Anne Frank 75 Jahre geworden. Doch sie starb Anfang 1945 im KZ Bergen-Belsen als eines der etwa sechs Millionen jüdischen Opfer der deutschen Nazi-Herrschaft. Durch ihr erhalten gebliebenes und später weltweit veröffentlichtes Tagebuch ist sie längst so etwas wie ein Symbol für die vernichteten jüdischen Kinder geworden. So wurde auf tragischen Umwegen ihr »liebster Wunsch« wahr, einmal eine »berühmte Schriftstellerin« zu werden, den sie am 11. Mai 1944 ihrem Tagebuch anvertraute.
Jacqueline van Maarsen war die beste Freundin von Anne Frank in der gemeinsamen zweijährigen Schulzeit am Jüdischen Lyzeum in Amsterdam. Im Tagebuch wird sie erstmals am 14. Juni 1942 erwähnt und später Jopi genannt. Kürzlich stellte die heute 76jährige ihre unlängst im S. Fischer Verlag erschienenen Erinnerungen im Berliner Anne-Frank-Zentrum vor.
Sie hatte Glück und überlebte die deutsche Besetzung der Niederlande und die Terrorherrschaft der Nazis dort. Mehr als 15 000 der damals in dem Land lebenden Juden fielen dem zum Opfer. Jacqueline van Maarsen versuchte lange Zeit, die »Gedanken an die dunklen Jahre« zu verdrängen, gestand sie in Berlin. »Ich war emotional zu sehr beteiligt«, sagte sie und sprach von dem Versuch, sich vor den Empfindungen zu schützen. Doch zugleich habe das Leben ihrer Freundin Anne Frank sie »sehr beeinflußt«. Durch das Tagebuch sei sie wieder mit dem Krieg konfrontiert worden und als Jopi selbst Teil der Legende geworden. Lange Zeit habe sie sich »nicht wichtig tun« wollen mit ihrer Freundschaft zu Anne Frank, berichtete Jacqueline van Maarsen. Das habe sich geändert, als sie merkte, daß sie mit ihren eigenen Erinnerungen bestätigen kann, daß die Geschichte ihrer Freundin glaubwürdig ist. Deshalb habe sie in den späten achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts begonnen, in Vorträgen über die Zeit der Naziherrschaft und ihre Freundschaft mit Anne Frank zu berichten.
»Anne ist für mich kein Symbol, sondern noch immer die kleine Freundin, ein lebendiges, warmes Kind«. Sie habe nie wieder jemanden kennengelernt, der so lebenshungrig war, erzählte Jopi. Die Zeit der gemeinsamen Freundschaft habe sich ihr durch die Umstände klar und deutlich ins Gedächtnis eingeprägt. »Ich heiße Anne, Anne Frank«, so habe sich das »kleine, dürre Mädchen mit glänzenden, schwarzen Haaren und einem spitzen Gesicht« vorgestellt, als sie sich das erste Mal im Herbst 1941 am Lyzeum begegneten, erinnert sich Jacqueline van Maarsen in ihrem Buch. »Nach ein paar Tagen erklärte Anne mit Bestimmtheit, daß ich ihre beste Freundin sei und sie meine.« Es sei aber auch »nicht immer leicht« gewesen, mit ihr befreundet zu sein, weiß Jopi noch. Anne Frank sei anspruchsvoll, auch eifersüchtig und extrovertiert, sie hingegen selbst eher introvertiert gewesen. Aber trotzdem hätten sie viele gemeinsame Auffassungen und Vorstellungen vom Leben gehabt und trotz der schlimmen Zustände eine »herrliche Zeit« zusammen erlebt. Und sie hätten damals »nicht ans Sterben« gedacht.
Als Anne Frank sich mit ihrer Familie im Juli 1942 im Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht versteckte, habe sie ihre beste Freundin verloren, schilderte Jacqueline van Maarsen ihre Empfindungen von damals. Sie habe sich danach »sehr einsam« gefühlt und lange Zeit geglaubt, die Familie ihrer Freundin sei in die Schweiz geflüchtet. Der Abschiedsbrief, den Anne Frank ihr am 25. September 1942 geschrieben hatte, erreichte sie erst nach dem Krieg. Durch Annes Vater, Otto Frank, der Deportation und das KZ Auschwitz überlebte, erfuhr sie vom Schicksal ihrer Freundin.
Das Buch ist aber mehr als die Erinnerungen an die gemeinsame Freundschaft. Jacqueline van Maarsen bezeichnete es in Berlin als ihre Memoiren. Darin beschreibt sie auch, wie sie überleben konnte, weil ihre französische Mutter Eline sich von ihrem angenommenen jüdischen Glauben lossagte und sie deshalb als Nichtjüdin verschont blieb. Auch ihr jüdischer Vater entkam der Vernichtung, dank eines Arztes, der ihm eine gefälschte Bescheinigung ausstellte über seine vermeintliche Sterilisierung.
Das Tagebuch von Anne Frank übermittle eine »bedeutsame Botschaft«, die sich gegen Diskriminierung richte, schreibt Jopi in ihrem Buch. Durch die Aufzeichnungen ihrer Freundin werde deutlich, »wohin es führen kann, wenn Diskriminierung und Vorurteile bis ins äußerste Extrem gesteigert werden«. »Wir müssen wachsam bleiben«, warnte Jacqueline van Maarsen in Berlin, denn der Antisemitismus zeige sich noch immer. Sie sprach auch von ihrer Hoffnung, »daß die Fehler von damals in Zukunft verhindert werden«.

Jacqueline van Maarsen: »Ich heiße Anne, sagte sie, Anne Frank«, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004, 223 Seiten, 17,90 Euro. Ausstellung »Anne Frank und ihre Familie ñ Fotografien von Otto Frank« im Anne-Frank-Zentrum, Rosenthaler Straße 39, Berlin-Mitte: dienstags bis sonntags ab 10 Uhr