von Jochen Mattern
Seit Anfang des Jahres ist am Schauspiel Dresden eine Aufführung des Stückes Die Ermittlung von Peter Weiss zu sehen. Das Oratorium in elf Gesängen, das 1965 seine Uraufführung erlebte, verarbeitet Materialien des ersten Ausschwitzprozesses 1963 bis 1965. Die Aufführung an einem Theater der Landeshauptstadt steht in einem eigentümlichen Kontrast zum Anspruch ostdeutscher Bürgerrechtler, »nicht länger im ›Schatten‹ der NS-Opfer stehen« zu wollen. Dieser, nach Ansicht der Zeitung Die Welt berechtigte, »geschichtspolitische Revisionismus« hat der sächsischen Staatsregierung jedoch den Vorwurf eingetragen, den Holocaust zu relativieren.
Erhoben hat diesen Vorwurf Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland und dessen Beauftragter für die Gedenkstätten. Um seine Kritik an der sächsischen Staatsregierung zu verdeutlichen, gebrauchte Salomon Korn das Bild einer Waage. Die Waage, mit der die »doppelte Vergangenheit« der Deutschen gewogen wird, neigt sich im Freistaat Sachsen zugunsten der Opfer des SED-Regimes. Die Verbrechen des Naziregimes werden dagegen als weniger schwerwiegend empfunden.
Diese »Waagschalen-Mentalität« kreidet der Vertreter des Zentralrates der Arbeit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten an. Sie hat dazu geführt, daß der Zentralrat der Juden Anfang des Jahres seine Mitarbeit in der Gedenkstättenstiftung eingestellt hat. Diesem Schritt haben sich die übrigen NS-Opferverbände der Sinti und Roma, der Wehrmachtsdeserteure, der Verfolgten des Naziregimes und der jüdischen Gemeinde in Dresden angeschlossen. Damit verfügt der Freistaat Sachsen zwar über eine Gedenkstättenstiftung, diese ist jedoch nicht arbeitsfähig.
Überraschend kam die spektakuläre Austrittswelle aus der Stiftung Sächsische Gedenkstätten nicht. Zuvor hatte sich Salomon Korn dreimal in schriftlicher Form an den sächsischen Ministerpräsidenten gewandt, um auf das Mißverhältnis in der Arbeit der Gedenkstätten aufmerksam zu machen. Der erste Brief an Georg Milbradt erging bereits im September 2003, also nur kurze Zeit nach dem Inkrafttreten des Stiftungsgesetzes. Offensichtlich war Milbradts Staatskanzlei nicht imstande, die Brisanz des Vorganges zu erfassen, denn sie reagierte zuerst gar nicht und später in völlig unzureichender Weise.
Die Kritik des Zentralrates richtet sich in erster Linie gegen den Beirat der Stiftung, der die Vertreter der Opfer der NS-Diktatur und die des SED-Regimes in einem Gremium vereint. Dies führe, so Korn wörtlich, »zu einer Vermischung zweier völlig unterschiedlicher Dimensionen« von Verbrechen. In anderen Bundesländern arbeiten die Gedenkstätten deshalb mit zwei Beiräten. Hinzu kommt, daß die ostdeutschen Bürgerrechtler über die Mehrheit der Stimmen in der Stiftung Sächsische Gedenkstätten verfügen. Diese wird ihnen durch die personelle Zusammensetzung des Stiftungsrates gesichert. Gleich drei Staatsministerien sind im Stiftungsrat vertreten, dazu kommen der Beauftragte für die Stasiunterlagen, der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung und der Leiter des Dresdner Hannah-Arendt-Institutes für Totalitarismusforschung. Angesichts dieses Personenkreises kann von einer staatsfernen, zivilgesellschaftlichen Gedenkkultur keine Rede sein. Im Gegenteil: In Sachsen dominiert der Staat das Gedenken an die Opfer des NS-Terrors und die des SED-Regimes. Dabei berufen sich die Helden der 1989er Revolution auf den antitotalitären Konsens, einen angeblichen Gründungskonsens der Bundesrepublik. Dieser besagt, daß die Deutschen immer schon antikommunistisch gesonnen gewesen seien, weswegen die ostdeutschen Bürgerrechtler nun auch zu den Siegern der Geschichte gehören.
Diese Art stolzen Heldengedenkens wird durch die Erinnerung an die NS-Verbrechen gestört, denn es beeinträchtigt den Wunsch nach einer Normalisierung der deutschen Geschichte. Folgerichtig neigt das Heldengedenken der Bürgerrechtler dazu, keine anderen Helden neben sich zu dulden.
Der Versuch, das sächsische Heldengedenken als verbindlich für die ganze Bundesrepublik zu erklären, ist vorerst aber gescheitert. Der von der Bundestagsfraktion der CDU/CSU-Fraktion im November vergangenen Jahres eingebrachte Antrag, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ein bundesweites Konzept zur »Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland« nach dem Muster des Sächsischen Gesetzes zu erstellen, wurde zurückgezogen und die Debatte darüber ausgesetzt. Doch ist die Angelegenheit damit keineswegs ausgestanden.
Der Zentralrat der Juden befürchtet nach wie vor einen »erinnerungspolitischen Paradigmenwechsel«, der das Schwergewicht des Gedenkens auf die Zeit nach 1945 legt und den Völkermord der Nazis relativiert. Die »Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in Deutschland« hat davor ausdrücklich gewarnt. Der Entwurf, heißt es in einer Presseerklärung, ebne den Weg für politische Einflußnahme und marginalisiere zudem »die Geschichtswissenschaft als Korrektiv sachlich nicht haltbarer Geschichtsbilder«.
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