von Uri Avnery, Tel Aviv
Nach einer Legende ist der Golem ein künstliches Geschöpf, das mit gewaltiger Stärke ausgestattet war. Rabbiner Judah Loew von Prag schuf ihn aus Ton und gab ihm Leben, indem er ihm ein Stück Papier mit dem geheimen Namen Gottes unter die Zunge legte. Der Golem half den Juden, sich bei antisemitischen Ausschreitungen zu verteidigen. Aber eines Tages wandte er sich gegen seinen Schöpfer. Er verursachte Verfall und Zerstörung, bis es dem Rabbi letzten Endes gelang, das Stück Papier unter seiner Zunge herauszuziehen. Der Golem zerfiel zu einem Haufen Ton.
Ariel Sharon ist kein Rabbiner, und die Kabbalah ist für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Aber er schuf einen Golem: die Siedlerbewegung in den besetzten Gebieten. Er war sicher, daß der Golem ihm dienen würde. Schließlich haben die Siedler ihm alles zu verdanken. Er war es, der sie seit Jahrzehnten nährte, sie mit großen Budgets ausstattete, für sie alle seine politischen Positionen, die er hintereinander inne hatte, ausbeutete: das Ministerium für Landwirtschaft, der Verteidigung, das Außenministerium, das Ministerium für Wohnungsbau, Industrie und Handel, für Infrastruktur und am Ende das Amt des Ministerpräsidenten.
Ich erinnere mich, daß ich Sharon vor etwa 25 Jahren in seinem Haus besuchte. Es war im Rahmen einer Recherche für einen biographischen Essay, den ich über ihn schrieb. Meine Frau und ich saßen mit Lilly Sharon, die uns ihre Köstlichkeiten servierte, in der Küche. Da bemerkte ich, daß im Nachbarraum die Führer der Siedler saßen. Sharon ging hin und her und teilte seine Zeit gleichmäßig zwischen uns. Schon damals beobachtete ich, wie die Siedler ihn wie ihren Schutzherrn behandelten.
Während all dieser Jahre, von der Zeit an, als er in den siebziger Jahren kommandierender General des südlichen Sektors war, versuchte er jeden, den er traf – Israelis und Ausländer gleichermaßen – mit Tiraden zugunsten der Siedlungen zu überzeugen; er breitete Karten vor ihnen aus (er hat immer Landkarten bei sich) und forderte sie auf zu handeln. Nach ihm war es lebensnotwendig, Siedlungen aufzubauen, um das ganze Eretz Israel – vom Mittelmeer zum Jordanfluß (mindestens) – in einen jüdischen Staat zu verwandeln, um die palästinensischen Gebiete in Streifen zu teilen und die Schaffung eines palästinensischen Staates zu verhindern, der ein Hindernis für die Ausführung aller Ziele des Zionismus sein würde.
Wie ein Bulldozer ohne Bremsen ebnete er jede Opposition ein. Er sorgte dafür, daß viele Milliarden Dollar den Siedlungen zugute kamen (die genaue Summe kann nicht ermittelt werden, da sie in verschiedenen Budgets versteckt sind), daß zu ihren Gunsten die Gesetze verbogen und Armeeoffiziere dafür gewonnen wurden, ihnen zu dienen. Auf diese Weise ist ein enges Netzwerk von Siedlungen und speziellen Straßen entstanden mit vielleicht 250000 Siedlern – wer zählt sie schon?
Als er jüngst den Slogan »einseitige Abtrennung« prägte, hätte er nicht gedacht, daß die Siedler wirklich opponieren würden. Schulden sie ihm nicht alles? Sind sie nicht seine verwöhnten Kinder? Sollten sie ihm nicht unbegrenzt dankbar sein? Sharon bot ihnen einen Deal an, der ihm ganz besonders vernünftig erschien (wie es früher Yossi Beilin erschien, der diesen Deal erfand, und Ehud Barak, der ihn zu erfüllen versuchte): Gib die isolierten Siedlungen mit ein paar Zehntausend Siedlern auf und bewahre dafür die großen Siedlungsblocks mit achtzig Prozent der Siedler, die dann Israel einverleibt werden. Opfere ein paar Finger, um den Körper zu erhalten. Auf diese Weise retten wir nicht nur das Siedlungsunternehmen, sondern gewinnen den größten Teil der Westbank.
Aber nachdem der Golem das Stück Papier unter seiner Zunge hatte, verhält er sich nach seiner eigenen Logik. Er dachte gar nicht daran, die Dutzende von kleinen Siedlungen aufzugeben, noch dazu, wo dort der harte Kern der messianischen Fanatiker lebt. Ihm war auch klar, daß die Evakuierung der ersten Siedlung einen Präzedenzfall schaffen würde und so gegen alle anderen genützt werden könnte. Die wirklichen Siedler mögen für die Gush Kativ-Siedler im Gazastreifen, die in erster Linie berechnende Geschäftsleute sind, nur Verachtung übrig haben; aber ihnen ist klar, daß die Schlacht um Gush Kativ der entscheidende Test ist.
Wie der Maharal hat Sharon seinen Golem unterschätzt. Er behandelte ihn als Diener. Wie kann er Respekt vor einem Geschöpf haben, daß er mit eigenen Händen erschaffen hat? Nun macht er die Erfahrung, daß es leichter ist, einen Golem zu erschaffen, als ihn wieder aufzulösen.
In den unzähligen Interviews, die Sharon über das letzte Wochenende gab, erklärte er, daß die Siedler nur eine kleine Minderheit des Volkes seien. Und in der Tat, sogar nach den Siedlern selbst, sind es nur vier Prozent der Bürger Israels. Aber die Zahl gibt nicht die tatsächliche Macht zum Ausdruck. In einer demokratischen Gesellschaft überwältigt eine kleine fanatische und hoch motivierte Minderheit eine große, aber gleichgültige und schlaffe Mehrheit.
Sharon verläßt sich auf die Tatsache, daß die Siedler in Israel nicht beliebt sind. Sie sind gewalttätig und unbändig; sie reden, kleiden und benehmen sich anders, sogar ihre Körpersprache ist anders. Der normale Israeli sieht sie als bizarre Sekte an. Zu guter Letzt hat der Israeli auch die Tatsache zur Kenntnis genommen, daß die Siedlungen Milliarden verschlingen, die Israel zur wirtschaftlichen und sozialen Wiederherstellung dringend benötigt.
Aber im Laufe von Jahrzehnten haben die Siedler einen großen Kontroll- und Propaganda-Apparat aufgebaut. Langsam und geduldig haben sie die Armee unterwandert, in der sie nun jene Schlüsselpositionen einnehmen, die früher Kibbuzmitglieder innehatten. Ihre Medien dehnen sich aus, während die Linke im Laufe der Jahre buchstäblich all ihre unabhängigen Medien aufgegeben hat. Die Siedler sind im Besitz großer Fonds, nicht nur das Geld, das durch Hunderte von Kanälen aus dem Staatshaushalt fließt, und nicht nur die großen Gaben amerikanisch-jüdischer Multimillionäre, sondern auch Mittel aus dem großen Fonds der amerikanischen, fundamentalistischen Christen.
Man mag sich fragen: Welcher Hafer stach Sharon, als er vorschlug, nur die Likud-Mitglieder sollten die Entscheidung über den Plan treffen? War ihm nicht klar, daß dies das einzige Schlachtfeld war, wo die Siedler mit überlegener Stärke gebieten? Er ging in seine eigene Falle.
Warum? So ist es gewöhnlich mit siegestrunkenen Generälen: aus purer Arroganz und Verachtung für die Gegner. Auf dem Gipfel seiner Macht vergaß er die en masse durchgeführten Hausbesuche, die emotionalen Appelle sowie die gut geschmierten logistischen Maschinen der Siedler, die mit dem Geld des Staates geschaffen wurden.
Die meisten Siedler sind diszipliniert. Wie jede messianische Sekte gehorchen sie ohne Vorbehalt ihren Führern, den »Yesha-Rabbinern«. (Yesha ist die hebräische Abkürzung für Judäa, Samaria und Gaza) Dies ist eine totalitäre Struktur, im wörtlichsten Sinne: totaler Glaube, totale Organisation, totale Disziplin.
»Mein Kopf unterstützt den Scharonplan, aber mein Herz unterstützt die Siedler«, bekannte ein Likud-Mitglied. Das ist ganz natürlich: Wenn ein Siedlerpaar mit Baby – und da gibt es immer ein Baby im festgebundenen Babytuch – zu seiner Wohnung kommt und fragt: »Willst du uns aus unserem Heim verjagen?« – wie kann er dem widerstehen? Schließlich hat er sein ganzes Leben gehört, daß es das nationale Ziel sei, das ganze Eretz Israel zu besitzen, daß die Siedler das Salz der Erde seien, daß man die ganze übrige Welt vergessen könne – und plötzlich kommt dieser Mann, Sharon, und sagt das Gegenteil?
Doch muß daran erinnert werden, daß nur weniger als zwei Prozent der israelischen Wählerschaft in diesem Parteireferendum gegen den Sharonplan gewählt hat. Bei den letzten Wahlen erhielt der Likud weniger als dreißig Prozent der Stimmen. Weniger als ein Viertel von diesen sind Likud-Mitglieder, die berechtigt waren, an diesem Referendum teilzunehmen. Von diesen haben nur die Hälfte tatsächlich abgestimmt. Und von diesen haben weniger als zwei Drittel gegen den Plan gestimmt. Diese sind zusammen mit den Siedlern, die keine Likud-Mitglieder sind, der Golem. Nur ein positives Ergebnis hatte dieses Referendum: Plötzlich wacht die Öffentlichkeit auf und begreift, daß der Golem in ihrer Mitte lebendig ist. Schon vom ersten Augenblick an gab es die warnende Schrift an der Wand: die Siedlerbewegung saugt das Mark aus dem Staat, sie ist ein Hindernis für den Frieden, sie ist eine Gefahr für die israelische Demokratie und selbst für die Zukunft des Staates.
Jetzt sieht die allgemeine Öffentlichkeit auch die Gefahr, die durch den rasenden Golem repräsentiert wird. Noch ist es Zeit, das Stück Papier unter seiner Zunge zu entfernen. Noch.
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs
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