von Wolfgang Sabath
Wir erinnern uns: Als sich unlängst in der Eröffnungsrede zur Leipziger Buchmesse die damalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete in einer Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus gefiel, verließ Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, aus Protest den Saal. Er empfand die Ausführungen als Relativierung des Holocausts. Ansonsten blieben die Proteste sehr, sehr verhalten, mehr als ein leichtes Säuseln im deutschen Pressewald war nicht zu vernehmen. Auch als sich dann Mitte April Sandra Kalniete, wie es das EU-Ritual vorsieht, als künftige EU-Kommissarin von den Brüsseler Parlamentariern befragen lassen mußte, unterblieben kritische Fragen zu ihrer Sicht auf die Zeitgeschichte aus. Darauf hatte uns schon der Grünen-Europa-Abgeordnete Cohn-Bendit in einer Bemerkung für den Berliner Tagesspiegel vorbereitet: Die deutsche Debatte um den Holocaust könne »nicht auf die europäische Ebene übertragen werden«. In der Zeitung hieß es ferner, daß es der CDU-Europa-Abgeordnete Brok ähnlich sehe, die Frage, ob der historische Vergleich zulässig war, sei »eine sehr deutsche Diskussion«.
Gewiß, das Thema verlangt gründliche und differenzierte Überlegung, Schnellschüsse sind hier noch viel weniger als anderswo angebracht. Indes: Die »Großzügigkeit«, mit der »Kerneuropa« insbesondere die zum Teil abenteuerlichen Geschichtskonstruktionen, die aus den neuen ost- beziehungsweise nordosteuropäischen EU-Mitgliedsländern kommen, »übersieht«, halte ich für erstaunlich. Das ist wahrscheinlich weniger Gesinnung als purer tagespolitischer Opportunismus.
Daß sich »die Neuen« allesamt vor allem auch ihre Vorkriegszeit (oder auch »Zwischenkriegszeit«) zurechtschönen, mag als läßlich gelten, aus Jammertal-Epochen lassen sich eben nur schwerlich neue, zukunftsorientierte Identitäten destillieren. Nach dem derzeit in diesen Ländern vorwiegend gepflegten Geschichtsverständnis war die Vorkriegszeit in Polen und in den baltischen Ländern eine blühende Epoche ohne Armut und ohne Pressionen, ein Hort des Volkswohlstandes, der Freiheit und Zufriedenheit – bis die Russen kamen. Ach ja, und die Deutschen auch … Es verwundert nicht, daß in solchen Nationalmärchen – nur als Beispiel – natürlich nicht vorkommt, daß Lettland seit 1934, wie kürzlich Micha Brumlik in der taz erinnerte, durch einen rechtsautoritären Diktator regiert wurde.
Sind solche Sichten auf die Geschichte immerhin noch zumindest erklärlich (wenn auch kaum zu billigen …), so ist die Großzügigkeit, mit der hierzulande zum Beispiel über den Umgang der Balten mit der deutschen Besatzungszeit hinweggesehen wird, mindestens so skandalös, wie es die Leipziger Rede Sandra Kalnietes war. Das ist eine Großzügigkeit, von der deutsche Glatzen oder andere Neonazis nur träumen können! Man stelle sich vor, in einer deutschen Stadt versammeln sich fünftausend Leute zur Eröffnung eines Gedenkfriedhofs für die Waffen-SS – so geschehen im September 2003 in Lestene, siebzig Kilometer von Riga entfernt. Der Friedhof wurde mit staatlichen Mitteln errichtet. Erzbischof Janis Vanags führte aus, die lettische Waffen-SS habe »mit dem Gewehr in der Hand versucht, den Einfluß der sowjetischen Truppen zu stoppen«. Der Lettischen Legion (gegründet 1943), auch 15. Waffen-Grenadier-Division der SS, gehörten 100000 Mann an. 1998 erklärte das lettische Parlament den 16. März zum »Tag des Soldaten«. Es ist das Gründungsdatum der Lettischen Legion.
Auch die anderen beiden Länder der Region, denen kritisches Nachfragen weitgehend erspart bleiben, seien hier noch kurz bedacht:
Litauen. Die jüdische Bevölkerung – 230000 Menschen – wurde nahezu ausgelöscht. Besonders tat sich dabei die litauische Hilfspolizei Saugumas hervor. Ein Denkmal für die Waffen-SS gibt es in Litauen allerdings nicht – es war Heinrich Himmler dort nicht gelungen, eine derartige Truppe zu formieren.
Estland (EU-Musterknabe). Wir geben eine dpa-Meldung vom 23. Juli 2003 im Wortlaut wider:
»Estnische Waffen-SS wird mit Denkmal geehrt
Tallinn/Pärnu (dpa) – Estnische Veteranenverbände ehren die estnischen Mitglieder der deutschen Waffen-SS mit einem Denkmal. Wie die Tageszeitung Postimees am Dienstag in Tallinn meldete, soll das Denkmal in Kürze im Küstenort Pärnu enthüllt werden. Es zeigt einen estnischen Soldaten in SS-Uniform mit Sturmgewehr. Die Inschrift lautet: ›Für alle estnischen Soldaten, die im Zweiten Freiheitskrieg für ihr Vaterland und ein freies Europa zwischen 1940 und 1945 gefallen sind.‹
Nach estnischen Angaben haben bis zu 100 000 Einheimische, zum Teil freiwillig, im Zweiten Weltkrieg in der deutschen Waffen-SS gekämpft. Während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 wurden in dem baltischen Staat etwa 1000 einheimische und mehrere tausende ausländische Juden systematisch ermordet. Über die Mitwirkung der Waffen-SS dabei sind sich Historiker uneinig. Estland ist in der Vergangenheit wiederholt international für seine schleppende Aufarbeitung der Geschichte kritisiert worden. Der Sprecher der Stadtverwaltung von Pärnu, Romek Kosenkranikus, sagte auf Anfrage, »die Stadt ist nicht sehr froh über das Denkmal, aber wir lehnen es auch nicht ab.« Im Nachbarstaat Lettland führen jährliche Aufmärsche einheimischer Waffen-SS-Veteranen regelmäßig zu internationalen Protesten. Solche Vorfälle waren bislang aus Estland nicht bekannt geworden.« Was nicht ist, kann ja noch werden.
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