Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 12. April 2004, Heft 8

Reisen in die Hölle

von Achim Engelberg

Seit dreißig Jahren reist der Reporter Charlie Johnson von Krisenherd zu Krisenherd. Manche glauben sogar, er brauche Reisen in die Hölle, um sich lebendig zu fühlen. In Bosnien, es ist sein erster Krieg in Europa, kommt es zur Katastrophe. Gelockt durch eine angebliche Story (»Positive Geschichten zahlen meine Miete«), gerät er mit seinem polnischen Kameramann Jacek in eine Falle. Ohnmächtig müssen sie zusehen, wie der Anführer der Soldateska die junge Frau, die ihnen Schutz bot, mit Benzin übergießt und anzündet.
Zwar entkommen sie, doch für Charlie Johnson ist sein bisheriges Leben vorbei. Die ihn immer stärker bedrängenden Bilder der sterbenden Frau; Schuldgefühle, weil er sich für eine Story in einen Hinterhalt locken ließ; verzweifelte Wut über die hinterhältige Brutalität des Täters – all das läßt ihn die professionelle Distanz verlieren, wühlt in ihm, treibt ihn zu einem privaten Rachefeldzug.
Eine Konstellation wie in Heiner Müllers Gedicht Birth of a soldier:

Auf dem Bildschirm ein Soldat aus England
Beim Leichenzählen in einem bosnischen Dorf
Er weint unter dem Blauhelm. Beim nächsten Blick
Sehe ich wie seine Kiefer mahlen
Ein Wolf der die Zähne bleckt
Die Grimasse sein letzter Gruß an die Menschheit
29. Oktober 1993

Wie entwickelt Michael Ignatieff die Situation? Charlie Johnson findet auch zu Hause keine Ruhe, darauf fliegt er nach Belgrad, um den serbischen Oberst zu stellen und trifft auf Gestalten, hinter denen der mit der Balkanmetropole vertraute Leser reale Personen erkennt; ein kurz vor dem Krieg aus dem Westen heimgekehrter Intellektueller mit dem Spitznamen Buddy begleitet Charlie auf seiner Suche nach dem Täter, der wie General Mladic verantwortlich für die Vertreibungen entlang der Drina ist.
Daß die Erzählung nicht in die Trivialität eines Schlüsselromans abgleitet, verhindert der Autor durch glaubhafte psychologische Gestalten und dramatische Dialoge, wo Einstellungen zu den neuen Kriegen aufeinandertreffen. Ignatieff schrieb einen Spannungsroman mit literarischen Anspruch, wo Geschichte als Aktion und Entscheidung dargestellt wird.
Der aus einer russischen Emigrantenfamilie stammende Autor, der als Gelehrter und Fernsehmoderator, Kommentator und Romancier hervortrat, verkörpert einen Intellektuellentypus, der verschwunden schien. Vom Schreibgestus her erinnert er an Autoren aus der Epoche des Weltbürgerkrieges (1914 bis 1945); Arthur Koestler beispielsweise, der im Nahen Osten, in der Sowjetunion und im Spanischen Bürgerkrieg war und von diesen Brennpunkten in Reportagen, Essays und Romanen berichtete. Sonnenfinsternis bleibt der gültige Roman über die Moskauer Schauprozesse. Wie andere von der politischen Leidenschaft ergriffene Autoren schrieb er in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Sachbücher, Essays, philosophische Abhandlungen, Autobiographien, aber keine Romane mehr. Der politische Spannungsroman aus der Mitte des Geschehens schien sich aus Europa zu verabschieden. Möglich war er noch in der sogenannten Dritten Welt, Gegenden wie Vietnam, wo Graham Greene sein Meisterwerk Der stille Amerikaner ansiedelte.
Wie Koestler und Greene suchte Ignatieff die Krisenherde der Welt auf, von Afghanistan bis Ruanda, von Bosnien bis Angola. Mit anschaulichen wie gelehrsamen Essays näherte er sich dem Roman, der in der szenischen Darstellung vielschichtiger ist als im Essay, wo der Autor vehement für ein militärisches Eingreifen des Westens eintritt. Im Roman dagegen spitzt er die Situation so zu, daß alle Personen ihr Wesen und ihre Hilflosigkeit enthüllen. Hier nur soviel: Ignatieff verwirft sowohl das klassische Rachedrama, bei dem die wichtigen Akteure am Ende tot sind (Hamlet), er endet nicht wie im Thriller mit dem Tod des Bösewichts, aber auch den offenen Schluß meidet er wie in dem griechischen Film, der im Roman eine Rolle spielt, wo der Rächer seine Pistole ins Meer wirft, gerührt vom Vatermörder, der nun ein alter schniefender Mann ist. Im altbewährten Genre des Rachedramas gelingt dem Autor ein ungewöhnlich verstörender Schluß.
Michael Ignatieff ist ein Autor der Stunde. Von Cambrigde ging er nach Harvard, um ein Institut für Menschenrechtspolitik zu leiten. Im vergangenen Jahr erhielt er für seine »politisch, ethisch und geschichtlich sensiblen Zeitanalysen« den von der Heinrich-Böll-Stiftung verliehenen Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken. Auch wenn Charlie Johnson in den Flammen nicht ganz große Literatur ist, schuf der Autor einen lesenswerten Spannungsroman über die neuen Kriege.

Michael Ignatieff: Charlie Johnson in den Flammen. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence, C. Bertelsmann Verlag München 2004, 192 Seiten, 16 Euro