Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 12. April 2004, Heft 8

Passionsgeschichte

von Hermann-Peter Eberlein

Es ist schon ein Kreuz mit dem Verhältnis zwischen Christen und Juden – angefangen von den Zeiten, da der Jude Jesus von Nazareth an einem solchen starb und seine Anhänger(innen) nichts anderes waren als eine kleine jüdische Splittergruppe, bis hin zu den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Mel Gibsons Film Die Passion Christi. Wer hat sich nicht alles bereits vor dem deutschen Kinostart des Films am 18. März dazu geäußert: katholische und evangelische Bischöfe, Michel Friedman und Friedrich Schorlemmer, Theologieprofessoren wie der Berliner Neutestamentler Walter Schmithals, Vertreterinnen der jüdischen Kultusgemeinde und der Vatikan.
Neben dem Vorwurf, der Film sei eine »bluttriefende Gewaltorgie« (Der Spiegel) geht es immer wieder um die Frage, ob der Film antisemitisch sei (wobei man endlich konsequent zwischen Antijudaismus aus religiösen und Antisemitismus aus rassischen Gründen unterscheiden sollte) oder mindestens dem Antisemitismus Vorschub leisten könne. Der Regisseur bestreitet dies, jüdische Betrachter bejahen die Frage vehement.
Die Frage nach der antijüdischen Tendenz des Films ist auch jetzt, wo wir alle den handwerklich gut gemachten, wenngleich klischeehaften Schocker haben sehen können, die eigentlich interessante. Nur – sie hat weniger mit dem Film zu tun als mit den Quellen, aus denen er vornehmlich schöpft: den Passionsgeschichten der Evangelien. Ihnen eignet nun einmal die Tendenz, den Juden die Schuld am Tode Jesu zuzuschreiben und den römischen Prokurator Pontius Pilatus zu entlasten. Ihren Höhepunkt findet diese Intention in jener Szene des Matthäus-Evangeliums, in der Pilatus seine Hände in Unschuld wäscht und die jüdische Menge antwortet: »Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder« – ein Satz, auf den Gibson übrigens verzichtet.
Diese antijüdische und prorömische Tendenz wird verständlich, blickt man auf die Situation, in der sich die Christen des späten ersten Jahrhunderts, der Zeit der Abfassung dieser Texte, befanden: Durch die nach dem Jahre 70 beherrschend gewordene pharisäische Richtung des Judentums aus dem Synagogenverband ausgeschlossen und damit auch der dem Judentum durch die Römer gewährten Privilegien beraubt, sahen sie sich sowohl von Juden angegriffen als auch von der römischen Staatsmacht verfolgt. Bei den Anklagen vor römischen Tribunalen spielte die Verurteilung Jesu durch einen römischen Richter eine wichtige Rolle; was lag also näher, als dieses Argument dadurch auszuhebeln, daß man Pilatus als Opfer jüdischer Agitation hinstellte?
Kurz: Wir besitzen keinen authentischen Bericht über den Prozeß Jesu, sondern nur tendenziöse Texte aus der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts, die nun seit anderthalb Jahrtausenden, in denen die Rollen von Verfolger und Verfolgten, Tätern und Opfern vertauscht sind, eine höchst fatale Wirkung haben. Nach diesen Texten einen Film zu machen, der noch dazu durch die Verwendung des Aramäischen und Lateinischen Authentizität vortäuscht – darin besteht das eigentliche Problem.
Denn anders als beim Herrn der Ringe geht es bei der Passion Christi für viele Menschen eben um mehr als um eine schöne oder schauerliche Fiktion. Es geht um religiöse Wahrheit, die sich an einer historischen Wirklichkeit – und eben nicht nur an zeitlosen Mythen oder an einer abstrakten Weltanschauung – festmacht. Diese Verknüpfung von Religion und Historie verlangt nach einer komplexen historischen Hermeneutik, die zwischen Wahrheit und Wirklichkeit genauso differenzieren muß wie zwischen Einst und Heute, Text und Rezeption, Autor und Leser. Dieser Aufgabe unterzieht sich Gibsons Film nicht, kann es vermutlich auch nicht. Das Medium Spielfilm ist dafür ungeeignet. Das bedeutet freilich nicht, daß der Film dem Zuschauer keinen Schlüssel zu seinem Verständnis böte. Im Gegenteil: Der Schlüssel liegt in dem Jahrhunderte vor Jesus entstandenen Motto aus dem alttestamentlichen Jesajabuch, das dem Film vorangeht und dessen Pointe in der geläufigeren Luther-Übersetzung lautet: »Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.« Dieser Schlüssel ist freilich nur innerhalb des Schemas von Verheißung und Erfüllung plausibel, eines vormodernen theologischen Paradigmas, das den Anforderungen wirklich historischen Verstehens eben nicht genügt.
Eine solche Zugangsweise, die sich die Mühe einer Differenzierung zwischen dem Wortlaut eines Textes und seiner Absicht, den historischen Umständen seiner Entstehung und seiner Wirkungsgeschichte erspart, die statt dessen meint, einen Text unmittelbar verstehen zu können und die dann mittels eines theologischen Kunstgriffs doch nur herausliest, was das eigene Interesse hineinlesen will – eine solche Zugangsweise nennt man gemeinhin: fundamentalistisch. Fundamentalistisches Christentum aber ist immer antijudaistisch. Das ist seine eigentliche Passion.