Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 12. April 2004, Heft 8

Chinesisch

von Wolfgang Haible, Peking

Nach einem halben Jahr Deutschland bin ich wieder in Beijing; SARS ist praktisch vergessen, von der Vogelpest ist im Alltag wenig zu spüren. In manchen Lokalen gibt es kein Hühnerfleisch; aber auf dem Markt werden Eier gehandelt.
Auch das kulturelle Leben ist längst wieder normal, SARS wurde bereits für das Theater verarbeitet. Das Stück im großstädtischen Theater in der Nähe der Haupteinkaufsstraße spielt in einem »Hutong« – einer jener traditionellen Gassen, in denen mehrere Familien meist in einzelnen Zimmern wohnen oder sich ein Haus teilen.
Der Hutong im Theater ist freilich etwas malerischer als der, in dem einer meiner Studenten wohnte. Er teilte sich mit seinen Eltern ein zirka zehn Quadratmeter großes Zimmer mit Kochnische. Es gab auf dem Hof einen Wasseranschluß, den sich mehrere Familien teilen mußten. Die öffentliche und einzige Toilette war etwas entfernt und sehr schmutzig, Intimität konnte es hier wie dort nicht geben.
Auch im Theater-Hutong gibt es Probleme, ein Mann kann sich nicht zwischen Frau und Geliebter entscheiden; wo er ist, vermißt er die andere. Zwei Familien sind verfeindet; bei einer Geburt starb ein Kind, die Mutter macht die gegenüber wohnende Krankenschwester dafür verantwortlich. Die Klimaanlage des einen Hauses zielt auf ein anderes, damit es dort im Sommer schön warm wird …
Daneben wird viel Sport getrieben, und ein Alter organisiert das Leben. Trotz des eigentlich ernsten Themas wurde im Theater viel gelacht; aber manchmal herrschte auch Betroffenheit, ja Ergriffenheit, zum Beispiel, als indirekt an das schlimme Erdbeben 1976 erinnert wurde, das viele Opfer in Beijing gekostet hatte; unter anderem die Eltern jener Krankenschwester, die auch an die »SARS-Front« will, deren Gesuch aber der Alte in Erinnerung an ihre toten Eltern und in Anbetracht des Blutzolls, den gerade diese Berufsgruppe für seine Arbeit zu entrichten hat, zurückhält. Von den auf der Bühne agierenden Personen stirbt keine an SARS, was wiederum – statistisch! – realistisch war.
Die billigsten normalen Plätze im Theater kosten 80 RMB, sind also für viele, auch wenn sie Ermäßigung (Studenten-Karten ab 40 bis 60 RMB) bekommen, zu teuer, auch für viele Lehrer. Vor dem Theater wurden Karten schwarz verkauft.
Das Gehalt für sogenannte ausländische Spezialisten wurde schon sehr lange nicht mehr erhöht, so daß sich die deutsche Klassengesellschaft auch in China zeigt, verstärkt durch die großen Einkommensunterschiede in China. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) wirbt und vermittelt inzwischen Deutschlehrer, gerne auch pensionierte, nach China, die dort ein Gehalt von monatlich etwa 3000 RMB erwartet, plus freie Wohnung und einen Flug im Jahr. Es ist klar, daß davon niemand leben kann. Deshalb findet man manchmal in Diskussionslisten für Lektoren »böse« Texte, die vorrechnen, was man zum Beispiel im DAAD verdient, beziehungsweise wie manche hier leben und andere nicht (leben können).
Auch der Schreiber dieser Zeilen, der zum zweiten Mal an einer sogenannten chinesischen Eliteuniversität unterrichtet, war dem DAAD keine Förderung wert. So kann er sich mit seinen jungen akademischen Kolleginnen und Kollegen überlegen, wo er verarmen möchte: ob in China, dessen (unterstes!) Lohnniveau unseren sozialdemokratischchristlichfreisozialen Politikern und Arbeitgebervertretern so attraktiv erscheint, oder in Deutschland.
Übrigens ist die Goethe-Bibliothek umgezogen, sie residiert jetzt im 17. Stock des Cybertowers. Zwar wurde die Bibliothek kräftig »verschlankt«, es gibt im neuen Domizil deutlich weniger Bücher; der Kanzlergattin Kinderbuch blieb zum Glück im Bestand! Aber alles ist schöner geworden, eben »postmoderner«. Für die Garderobe gibt es zwei Reihen mit Schränken. Um sie zu benutzen, muß man eine achtstellige Ziffer eingeben. Bei meinem ersten Versuch 8*1 passierte nichts, bei meinem zweiten Versuch, 8*8, öffnete sich ein schon belegtes Fach. Ich habe dann doch noch ein freies Fach gefunden mit einer Nummer, die ich mir mit Mühe merken konnte. Als ich übrigens wieder ging, stand eine Studentin vor ihrem Fach, ihre Geheimnummer war 8*8, das sich nicht mehr öffnen ließ.
Für die nächste Zeit ist in meinem chinesischen Theater Warten auf Godot angekündigt.