Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 15. März 2004, Heft 6

Vertreibung und Aussiedlung

von Wolfgang Sabath

Schon vor längerem haben die Deutschen mehrheitlich mit sich vereinbart, die Kriegs- und die Nachkriegszeit für beendet zu erklären. Außerdem haben sie ihr Tätergewesensein endgültig satt und wollen nun auch endlich mal zu den Opfern gehören. Was menschlich nicht unverständlich ist. Und falsch ist es per se auch nicht, selbst wenn die Väter und Großväter und die BDM-Ur-Omas und SA-Ur-Opas gleichsam Opfer ihrer selbst gewesen sein sollten. Auf dem Buchmarkt wird diese neue Entwicklung unter anderem auch dadurch dokumentiert, daß das die Schilderungen deutschen Opfertums nicht mehr die Domäne rechtsgepolter Verlage im Umfeld der Vertriebenenverbände, sondern deutlich auf dem Marsch in die Seriosität sind – Grassens Krebsgang und Friedrichs Bombenkrieg und Publikationen von Peter Glotz mögen hier als Synonyme für die neue Sicht auf die Dinge gelten.
Der Münchner R. Oldenbourg Verlag legte jetzt (als Band 20 der Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa) das Buch Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949 vor. Es beeindruckt – und erdrückt – durch eine zwar wohlgeordnete, dennoch schier fast unverdaulich gewaltige Materialfülle. Es scheint, als habe die polnische Autorin Bernadetta Nitschke nicht eine Facette des Geschehens unbehandelt gelassen.
Sehr angenehm empfand ich, daß die Autorin selber ihre Quellen, insbesondere die mündlichen beziehungsweise aufgeschriebenen Erlebnisberichte relativiert und den Leser zu kritischem Herangehen ermuntert. Sie merkt dazu unter anderem an: »Die Ereignisse von damals rufen auch weiterhin Emotionen hervor. Für diejenigen, welche die anderen ausgesiedelt haben, und für diejenigen, die selbst ausgesiedelt wurden, ist die persönliche Erfahrung der Geschichte keineswegs gleichbedeutend mit einem Verständnis für die Zusammenhänge«, und sie zitiert bekräftigend einen polnischen Historiker-Kollegen, der dazu geschrieben hatte: »… damit zwischen Menschen eine gewisse Bindung entsteht, reicht es doch nicht aus, daß sie dasselbe Ereignis erlebt haben. Hinzukommen muß, daß sie es auf die gleiche Weise erlebt haben.«
Bernadetta Nitschke macht auch auf die Diskrepanz zwischen Politik und Leben aufmerksam und konstatiert in diesem Zusammenhang, daß der »Dialog der Politiker noch keine Annäherung der beiden Erinnerungskulturen zur Folge« (hatte). So passiert es eben, daß einem beim Lesen der Aussagen von Betroffenen zuweilen auch heute noch der Kaffee hochkommt; so zum Beispiel wenn der »Geistliche Franz Scholz« – sich auf plündernde Rotarmisten beziehend – der Nachwelt unter anderem diese feine Sentenz zu Protokoll gibt: »Die Ostvölker zeichnen sich durch einen unheimlichen Instinkt für verborgene Frauen und versteckte Wertgegenstände aus.« Da wundert es natürlich nicht, daß dieser gelehrige Schüler Alfred Rosenbergs im gleichen Atemzug beklagt, daß »der Deutsche aufgehört (hat), Rechtssubjekt zu sein« und »seine Ehre … dem übermütigen Sieger gnadenlos zur Verfügung« steht. Unsere Ehre heißt Treue, oder wie?
Als Bernadetta Nitschke vor einigen Wochen in der Berliner Dependance der Polnischen Akademie der Wissenschaften ihr Buch vorstellte und daraus las, schien es, als habe sie die Passagen mit Blick auf das zu erwartende Publikum ausgewählt. Und wie jeder anständige Deutsche »seinen Juden« im Keller hatte, scheint es inzwischen in Polen nicht unangebracht, »seinen Deutschen« gehabt zu haben. Zugegeben, das ist vielleicht unangebracht polemisch. Aber dazu verleitet eben so ein Satz, gesprochen von einem Danziger Polen, der einen Deutschen vor sowjetrussischen Marodeuren retten wollte: »Wir sind echte Polen, keine Kommunisten.« So kurz lassen sich hundert Jahre polnischer Arbeiterbewegung erledigen.
In der Debatte fragte ein Teilnehmer nach der Rolle der polnischen katholischen Kirche in den Westgebieten. Ein neben mir sitzender älterer Herr bezischelte die Frage in schönstem oberschlesischen Wohlklang: »Mecht sein, ohne die Kirche wärn de Polen dort im Schnaps ersoffen.« (Es hörte sich an, als habe er Pollacken gesagt.) Bernadetta Nitschke indes, die vermutlich sofort verstanden hatte, daß der Fragesteller auf eine bestimmte Antwort aus war – nämlich die, daß die Kirche in der Frage der »wiedergewonnenen Westgebiete« mit den Kommunistenteufeln einst sehr, sehr im Bunde stand –, überraschte mit der Auskunft, die Kirchen-Archive seien ihr leider weitgehend verschlossen geblieben. Na sowas.

Bernadetta Nitschke: Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949. Aus dem Polnischen übersetzt von Stephan Niedermeier, Verlag R. Oldenbourg München 2004, 392 Seiten, 24,80 Euro